Kriminalität:Pauls Reise

Kind aus der Schweiz in Wohnung festgehalten

Im Dachgeschoss dieses Düsseldorfer Hauses wurde Paul befreit.

(Foto: Young David/dpa)

Wie gelingt es Polizisten, einen vermissten Schweizer Jungen nach kurzer Suche in Düsseldorf zu finden? Über eine beispielhafte internationale Zusammenarbeit - mit glücklichem Ausgang.

Von Charlotte Theile, Zürich

Als Paul S. am Samstag, 18. Juni, nicht zum Abendessen nach Hause kam, nahmen die Ermittler an, er sei abgehauen. In den Tagen vor seinem Verschwinden hatte der Zwölfjährige eine Strichliste geführt - und seinen Mitschülern erzählt, er werde dann bald weg sein. Die Polizisten durchsuchten sein Kinderzimmer, sprachen mit Freunden und Familie, gingen seine Online-Aktivitäten durch. Paul blieb weg. In Gunzgen, einem Dorf im Schweizer Kanton Solothurn, begann eine Woche im Ausnahmezustand. Die Polizei suchte mit Hunden und Booten nach dem vermissten Jungen, die sogenannten Umfeldabklärungen, wie sie Urs Bartenschlager, Chef der Kriminalpolizei Solothurn, nennt, wurden immer breiter. Boulevard-Zeitungen befragten besorgte Anwohner, einige erzählten, sie würden ihre Kinder nur noch mit dem Auto zur Schule bringen. Von Paul schien es nur eine einzige Spur zu geben: Sein Fahrrad, gefunden im Nachbardorf Härkingen.

Unterdessen lief bei der Schweizer Polizei eine der spektakulärsten Ermittlungen der jüngeren Kriminalgeschichte ab. Aus den Online-Protokollen des Schülers leitete sich für die Beamten ein konkreter Verdacht ab. "Wir haben gesehen, dass sich Paul in den Wochen vor seinem Verschwinden sehr stark in Online-Games aufgehalten hat", sagt Bartenschlager. Und dass der Junge dort seit längerer Zeit intensiven Kontakt zu einer unbekannten Person hatte. Was bis dahin ein Fall für die Kriminalpolizei Solothurn gewesen war, weitete sich zu einer Aufgabe für ein internationales Geflecht von Ermittlern aus.

Eine Spur führte in die USA. "Die Zusammenarbeit mit dem FBI lief sehr gut", sagt Bartenschlager. Man habe schnell ausschließen können, dass ein Amerikaner mit Pauls Verschwinden in Verbindung stehe. Eine andere Spur führte nach Deutschland, genauer gesagt: In die südlichen Ausläufer der Stadt Düsseldorf. Am Samstagabend, eine Woche nach Pauls Verschwinden, hatten die Ermittler den Unbekannten, der mit dem Zwölfjährigen beim Online-Spiel "Minecraft" kommuniziert hatte, identifiziert. In der Nacht auf Sonntag stürmte ein deutsches Spezialeinsatzkommando die Wohnung eines 35-jährigen Mannes: Werner C., vorbestraft wegen kleinerer Betrugsdelikte. Dort fanden sie Paul, "körperlich unversehrt". Er konnte zu seinen Eltern zurückkehren, die Freude war riesengroß.

Es ist ein Ende, wie man es in einer solchen Geschichte selten erlebt. Wenn ein Kind über mehrere Tage verschwunden bleibt, sind die Prognosen meist düster. Auch Kripo-Chef Urs Bartenschlager sagt: "Wir hatten nicht mehr so viel Hoffnung." Dass in diesem Fall vieles glimpflich abgelaufen ist, sei der reibungslosen nationalen und internationalen Zusammenarbeit und dem geräuschlosen Ermitteln der IT-Forensiker im Internet zu verdanken. "Hätte dieser Mann bemerkt, dass wir ihm auf den Fersen sind, wäre das Leben von Paul in akuter Gefahr gewesen", sagt Bartenschlager. Gegen Werner C. wird nun wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, Freiheitsberaubung und des Besitzes kinderpornografischer Schriften ermittelt. Das teilte die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft am Montag mit. Nachbarn berichteten, immer wieder Kinder in der Wohnung des 35-Jährigen gesehen zu haben; auf einer Homepage soll er Hausaufgabenhilfe angeboten haben.

"Je weniger man über jemanden weiß, desto weniger kann es ein Freund sein", sagt der Polizist

Für die Schweizer Polizei ist dieser Fall in vielerlei Hinsicht beispielhaft. "Die Ermittlungen im Netz kennen keine nationalen Grenzen", sagt Bartenschlager. Eine mittelgroße Kantonspolizei, die mit FBI und BKA zusammenarbeitet - Fälle wie diesen könnte es in Zukunft immer wieder geben. Langwierige Kooperationsabkommen und Zuständigkeitsgerangel können sich die Ermittler dabei kaum mehr leisten. Dass ein Kind nach so langer Zeit wohlbehalten aufgefunden wird, bleibt immer ein seltenes Glück. Zum Zweiten zeigt der Fall, wie riskant harmlose Online-Games für Kinder werden können. Minecraft gilt als fantasievolles Spiel, von Experten als "pädagogisch wertvoll" eingestuft, millionenfach verkauft. Er rate Eltern davon ab, Computerspiele zu verbieten oder zu verteufeln, sagt Bartenschlager. "Das Rad ist erfunden, jetzt müssen wir damit fahren." Für Eltern bedeute das: Sie sollten wissen, was ihre Kinder im Netz spielen, am besten selber einmal mitspielen. "Dabei sollte man sich erklären lassen, wie in dem Spiel kommuniziert wird. Gerne auch mal nachfragen: Du unterhältst dich viel mit Mike. Wer ist das?", schlägt der Schweizer Ermittler vor. "Eltern sollten ihren Kindern klarmachen: Je weniger man über jemanden weiß, desto weniger kann es ein Freund sein." Und wenn Kinder ihre Online-Bekanntschaften treffen wollen? "Dann gibt es zwei grundsätzliche Regeln: Nur in Begleitung, nur an öffentlichen Orten."

Das glückliche Ende des Falls ist nicht nur den Ermittlern zu verdanken - auch Zeugen, die beobachtet haben, dass Paul in Begleitung eines Mannes unterwegs war. Das Fahndungsfoto, das den Jungen mit blonden Locken zeigt, ist inzwischen verpixelt, der Persönlichkeitsschutz steht im Vordergrund. Kripo-Chef Bartenschlager bleibt zurückhaltend: "Wie es in dem Jungen aussieht, vermag ich nicht zu sagen."

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