Kriminalität:Die Urangst aller Eltern

Sivio S.

Wie ein Student in einer Vorlesung: Silvio S., 33, im Gerichtssaal.

(Foto: REUTERS)

Die Taten sorgten bundesweit für Schlagzeilen: Silvio S. soll zwei kleine Jungen entführt und ermordet haben. Jetzt steht er vor Gericht.

Von Verena Mayer, Potsdam

Zwei Mütter, beide haben ihre Söhne verloren, die Jungen wurden entführt und später getötet. Vor dem Landgericht Potsdam treffen sie am Dienstag aufeinander.

Als Erstes betritt Aldiana J. den Gerichtssaal. 29 Jahre alt, schmal, tiefe Augenringe. Ein Dolmetscher flüstert ihr ständig etwas ins Ohr, Aldiana J. ist Bosnierin und kann kaum Deutsch. Sie war als Flüchtling nach Berlin gekommen, ihr Sohn Mohamed verschwand, als sie im vergangenen Oktober vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) mit unzähligen anderen Flüchtlingen um ihre Papiere anstand.

Ihr folgt Anita S., die Mutter des sechsjährigen Elias. Sie ist blass und humpelt auf Krücken zu ihrem Platz, eine Frau, die im wahrsten Sinn des Wortes gebrochen ist. Ihr Sohn hatte im Juli 2015 wie so oft in einem Sandkasten direkt vor ihrer Wohnung in Potsdam gespielt. Als sie den Jungen zum Abendessen holen wollte, fand sie ihn nicht mehr.

Elias erwürgte er

Die Mütter schauen auf die andere Seite des Saales. Dort sitzt Silvio S., 33, und hält sich eine Aktenmappe vors Gesicht, um sich den Blicken zu entziehen. Silvio S. soll die Kinder weggelockt haben, auf den Bildern einer Überwachungskamera sieht man ihn, wie er ein Kuscheltier trägt und den vierjährigen Mohamed an der Hand hält. Sowohl Elias als auch Mohamed soll er zuerst auf die Rückbank seines Autos gesetzt und ihnen Schlafmittel verabreicht haben. Elias erwürgte er, die Leiche des Jungen wurde Ende Oktober 2015 in seinem Garten gefunden. Mohamed brachte er in seine Wohnung, wo er ihn sexuell missbraucht haben soll. Als der Junge weinte und nach seiner Mutter rief, soll er ihn mit Chloroform betäubt und erwürgt haben. Die Staatsanwaltschaft hat Silvio S. unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs und Mordes angeklagt.

Ob er sich äußern wolle, fragt der Richter. Silvio S. schüttelt den Kopf. Seine Verteidiger haben beantragt, die Öffentlichkeit vom Prozess auszuschließen, man habe Angst vor einer "Prangerwirkung". Die Richter lehnen ab, die Öffentlichkeit habe ein Recht zu erfahren, was passiert ist.

Die Taten haben bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Schwerverbrechen an Kindern sind in den vergangenen Jahren zurückgegangen, und die meisten passieren innerhalb der Familie, weil Kinder vernachlässigt, misshandelt oder tödlich verletzt werden. Hier aber wurde die Urangst aller Eltern wahr: Dass ein Fremder ihre Kinder mitnimmt, am helllichten Tag, und keiner bemerkt etwas. Im Fall Mohamed kommt hinzu, dass das Verbrechen auf dem Gelände des Lageso passierte, jener Berliner Behörde, die für die Aufnahme von Flüchtlingen zuständig ist. Es war der Höhepunkt der Flüchtlingskrise, über Monate mussten die Leute zu Hunderten auf dem Gelände campieren, um sich registrieren zu lassen. Und nicht nur, dass es die Behörde nicht schaffte, die Akten zu bearbeiten, am Lageso konnte auch ein Kind Opfer eines mutmaßlichen Sexualmörders werden.

Die Mutter flüstert fast

Wie das Familienleben gewesen sei, fragt der Richter Anita S. Die Mutter von Elias ist die erste Zeugin im Prozess. Sie erzählt, dass sie von Beruf Übersetzerin ist und mit ihrem Sohn nach Potsdam gezogen war, weil sie wollte, dass der Junge dort eingeschult wird. Die Familie lebte in Schlaatz, in einem Wohnblock mit viel Grün. Elias war gerade dabei, sich einzuleben, sein Kinderzimmer war frisch eingerichtet. Was Elias für ein Kind gewesen sei, will der Richter wissen. "Sehr offen, er hatte Spaß mit anderen Kindern", sagt die Mutter. Sie flüstert fast, immer wieder fällt sie beim Erzählen in die Gegenwart.

Elias hatte sie eingeschärft, was alle Eltern ihren Kindern sagen. Er durfte sich nicht von Fremden ansprechen lassen und niemandem die Tür öffnen, der klingelte. In die Schule fuhr sie ihn jeden Morgen mit dem Auto, und wenn er draußen spielte, durfte er nur vor dem Fenster sein, von dem aus sie ihn sehen konnte. Auch an jenem Juli-Abend. Anita S. kochte, währenddessen schaute sie immer wieder aus dem Fenster. Als sie dann nach draußen ging, um zu rauchen und den Jungen ins Haus zu holen, war er verschwunden.

Silvio S. schaut die Mutter von Elias die ganze Zeit an, während sie erzählt. Manchmal nickt er oder schüttelt den Kopf, wie ein Student, der in einer Vorlesung etwas Interessantes erfährt. Er soll seine Taten lange geplant haben, in seinem Auto wurden Gummibärchen und Plüschtiere gefunden. Auch soll er den Missbrauch von Mohamed an Puppen geübt haben. Verhaftet wurde er im Haus seiner Eltern. Seine Mutter hat die Polizei gerufen, weil sie ihren Sohn auf den Bildern der Überwachungskameras, die damals überall veröffentlicht wurden, erkannt hatte.

Sie wird die dritte Mutter sein, die in diesem Verfahren eine Rolle spielt. Das Urteil wird Ende Juli erwartet.

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