Kriminalität:Die letzte Option

recht-fa

SZ-Grafik: Stefan Dimitrov

Ein Kind wird missbraucht, der Täter stellt Videos davon ins Darknet. Als die Ermittler Fotos des Mädchens veröffentlichen, finden sie den Mann binnen weniger Stunden. Warum haben sie so lange gezögert?

Von Ronen Steinke

Allein schon dieser Fahndungsaufruf. "Geschlecht: weiblich. Alter: circa vier bis fünf Jahre. Haare: blond bis dunkelblond, glatt, lang, gerader Pony. Gesicht: rundes Kinn, Stupsnase, Augenfarbe vermutlich braun. Körperbau: schlank, gerade. Sprache: deutsch." Es kommt selten vor, dass die Polizei nach einem Kleinkind fahnden muss. Als das Bundeskriminalamt am Montag diese Beschreibung verbreitete, musste man sich zudem vergegenwärtigen, dass die Beamten sämtliche dieser Informationen allein aus der Betrachtung von Kinderporno-Aufnahmen beziehen mussten. Stupsnase. Körperbau. Sprache: deutsch. Videos, in denen das Kind gequält wurde.

Neulich saßen sie wieder zusammen, 20 Kripo-Experten aus verschiedenen EU-Staaten. In einem Konferenzraum, am Boden führten Kabel zu nagelneuen Bildschirmen. Im Erdgeschoss des neuen Europol-Baus in Den Haag, dem Galton-Saal, sahen sie sich eine Woche lang gemeinsam Kinderpornos an, das geschieht seit einer Weile regelmäßig. Genauso praktizieren es die Ermittler beim BKA in Wiesbaden. SO 43 heißt dort die Einheit. "Auswertung Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen", man sitzt im Europaviertel, meist in Einzelbüros.

Die Bilder von dem vier- oder fünfjährigen Mädchen gingen beim BKA Mitte August ein. Eine ausländische Behörde hatte sich gemeldet. Sie hatte die Bilder bei ihren Ermittlungen im Darknet gefunden, jenem Teil des Netzes, in dem Nutzer anonym surfen, ohne sich durch IP-Adresse zu verraten. Die Bilder lagen nicht auf "Elysium", der im Juli zerschlagenen deutschen Kinderporno-Seite. Es war eine der vielen anderen weltweit.

"Das hält man nur mit vielen Verschnaufpausen aus."

Ein Wettlauf gegen die Zeit begann, denn neu aufgetauchtes Videomaterial im Darknet zeigte: Der Missbrauch des Kindes ging weiter. Und hätten die deutschen Ermittler am Ende nicht zu einer sehr ungewöhnlichen Maßnahme gegriffen, einer, die "möglichst eine Seltenheit bleiben soll", wie ein beteiligter Strafverfolger selbst sagt, wäre das Verbrechen womöglich auch bis Montagabend nicht gestoppt worden.

Erst versuchten die Ermittler, in den Videos etwas Bekanntes zu entdecken. Stimmt das Gesicht des Opfers mit einem Vermisstenfall überein? Verrät ein unscheinbares Detail, wo man fahnden müsste? Liegt im Hintergrund ein Kalender in kyrillischer Schrift? Ein Stück der Zeitung El País? Ein Kuscheltier, das an einem bestimmten Ort vertrieben wird? Die Strafverfolger zoomten an jedes Detail heran, zerlegten die Tonspur in alle entsetzlichen Einzelheiten. "Das hält man nur mit vielen Verschnaufpausen durch", sagt einer, der manchmal in Den Haag dabei ist. In Deutschland muss kein Beamter diese Aufgabe länger als zwei oder drei Jahre durchstehen, dann wird er oder sie - es erklären sich viele Beamtinnen zu dieser Kinderschutzarbeit bereit - abgelöst.

Im Fall des vier- oder fünfjährigen Mädchens half es nichts. Der Täter war extrem vorsichtig. Das ist nicht immer so. Im Januar hatte das BKA das Foto eines Mannes mit dunkelblonden Haaren veröffentlicht, der auf mindestens 26 Bild- und Videodateien im Darknet beim Missbrauch eines acht- oder neunjährigen Mädchens gesehen worden war. Als die Fahnder damals die Öffentlichkeit um Mithilfe baten, fügten sie hinzu: Auffallend sei ein großflächiges schwarz-rotes Tattoo auf der Außenseite des linken Unterschenkels.

Ende Januar war das. Nach zwölf Stunden Foto-Fahndung war der Täter gefasst, es war ein Familienvater aus Bayern.

Aber jetzt? Nichts. Selbst im Darknet, also hinter den digital verschlossenen Türen von sogenannten Tor-Browsern, die alles in Dunkelheit hüllen, werden die Täter immer vorsichtiger, sagt Alexander Badle, Oberstaatsanwalt in Hessen. Das BKA in Wiesbaden arbeitet bei Cyberstraftaten mit der hessischen Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität zusammen, der ZIT. So auch hier. "Oft zeigen die Täter bewusst nicht den Kopf des Opfers", sagt der Staatsanwalt. "Die Täter wissen, dass wir mit Bildern von nackten Genitalien nicht fahnden können." Das vier- oder fünfjährige, deutsch sprechende Mädchen trug zwar auf verschiedenen Aufnahmen unterschiedliche Kleidung. In der Vergangenheit hat das manchmal schon genügt. Europol etwa fahndet nach bedruckten Kinder-T-Shirts, wenn es sich um besondere, seltene Modelle handelt. In diesem Fall war es anonyme Massenware.

Es blieb nichts anderes, als das Gesicht des Mädchens zu zeigen. Es war Montag, als diese Entscheidung fiel, um 10 Uhr wurde sie öffentlich. Gemeinsam mit der ZIT gab das BKA ein Foto des Kindes heraus, was auch bedeutete: Man nahm in Kauf, das Kind einer Stigmatisierung in seinem sozialen Umfeld und neuen, üblen Fantasien auszusetzen.

Die schockierte Mutter meldete sich bei der Polizei

Und? Nach wenigen Stunden Foto-Fahndung war der Täter gefasst. Es war die schockierte Mutter des Kleinkinds selbst, die sich in einer norddeutschen Polizeidienststelle meldete. Als Verdächtigen benannte sie ihren Lebensgefährten, einen 24-Jährigen aus dem Landkreis Wesermarsch in Niedersachsen. Das vierjährige Kind hatte sie bei sich.

In der Wohnung des Mannes seien Beweismittel sichergestellt worden, teilten das BKA und die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt mit. Der Mann soll das Kind zwischen Oktober 2016 und Juli 2017 mehrfach schwer missbraucht haben. Er sollte noch am Dienstag dem Haftrichter vorgeführt werden.

So blieb bei vielen, die das Foto am Montag gesehen hatten, nur die Frage: Wenn es so schnell geht, warum haben die Ermittler so lange gezögert? "Wir mussten erst alle anderen Mittel ausschöpfen", sagt der Frankfurter Oberstaatsanwalt Badle. Die Ermittler nennen keine weiteren Details zu dem Kind, und die Social-Media-Leute des BKA bitten inständig darum, Bilder von ihm, die während der Fahndung online geteilt wurden, aus Gründen des Opferschutzes wieder zu löschen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: