Krawalle in Pariser Vororten:Wege aus dem Ghetto

Am zweiten Tag der Unruhen in den Pariser Vororten spricht die Soziologin Catherine de Wenden über die immigrationspolitischen Probleme in den Banlieues.

Cornelius Wüllenkemper

Die Soziologin Catherine Whitol de Wenden gilt als führende Immigrationsforscherin Frankreichs. Sie ist Professorin an der Elitehochschule Science Po, Forschungsdirektorin am Centre National des Recherches Scientifiques und Beraterin bei der Europäischen Kommission und den Vereinten Nationen.

SZ: Frau Wenden, in Ihrem gerade erschienenen Buch "Sortir des banlieues" ziehen Sie Bilanz über 30 Jahre Ausländerpolitik in Frankreich. Sie bezeichnen sie als weitgehend gescheitert. Wie erklären Sie das?

Catherine Whitol de Wenden: Wir sind noch immer weit von dem entfernt, was zuletzt vor zwei Jahren unter dem Begriff 'sozialer Zusammenhalt' propagiert wurde. Seit man 1974 in Frankreich die Anwerbung von Gastarbeitern stoppte, hat man eine recht chaotische Integrationspolitik verfolgt.

Lange Zeit hat man fälschlich geglaubt, die Gastarbeiter würden früher oder später in ihre Heimat zurückkehren. Viele der Banlieuebewohner, die schon seit Jahrzehnten in Frankreich wohnen, haben noch immer kein Wahlrecht und deswegen keinerlei Einfluss auf die Lokalpolitik der Bezirke, in denen sie leben. Die Bürgermeister dieser Bezirke haben folglich auch keinen Grund, auf die Belange der Immigranten Rücksicht zu nehmen.

Andererseits verfolgen wir seit nunmehr 30 Jahren eine Politik der positiven Diskriminierung bestimmter Bezirke. Da wird eine Menge Geld in Schulen und andere Stadtentwicklungsprojekte gepumpt. Aber dabei wird völlig vergessen, dass die Leute weiterhin in ihren Banlieues festsitzen. Ein wichtiger Grund für das Scheitern der Integrationspolitik ist, dass man seit 20 Jahren eine regelrechte Gettoisierung betreibt

SZ: Sie kritisieren unter anderem die mangelnde Mobilität der Bewohner der Vorstädte.

De Wenden: Bei unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass gerade die Immigranten aus Bezirken mit guter Verkehrsanbindung schneller Anschluss an die Gesellschaft finden. Soziale Mobilität hat heute viel mit physischer Mobilität zu tun. Viele der Vororte wurden in den sechziger Jahren hochgezogen, als das Auto noch das wichtigste Fortbewegungsmittel war. Es gab dort so gut wie keine öffentlichen Verkehrsmittel.

Heute sieht das ähnlich aus. Viele Bewohner der Vororte benutzen die Busse und Bahnen nicht mehr aus Angst vor gewalttätigen Übergriffen, und die meisten Linien stellen ihren Dienst um 20 Uhr ein. Die Menschen sind abends in ihrer Banlieue eingeschlossen.

Und so gibt es viele andere Mängel in der Infrastruktur. Die Vororte sind eine Vulgarisierung der Architektur Le Corbusiers: ein Ort zum Schlafen, Einkaufen und Arbeiten. Aber Grünanlagen, öffentliche Verkehrsmittel oder Kulturstätten hat man dabei total vergessen.

SZ: Sie machen in der französischen Gesellschaft ein Grundgefühl der Unsicherheit aus, das sich die Rechtsextremen politisch zu Nutzen machen. Welche Rolle spielen ausländerfeindliche Tendenzen in der französischen Gesellschaft beim Aufbegehren der Banlieuebewohner?

De Wenden: Die Rechtsextremen haben in Frankreich 1983 erstmals Wahlerfolge in der Lokalpolitik verzeichnet. Seitdem geben sie sowohl im linken als auch im bürgerlichen Lager den Ton in der Immigrations- und Integrationspolitik an.

Bei unserer Einwanderungspolitik wird genau darauf geachtet, den Rechtsextremen keine Angriffsfläche zu bieten. Es ist seit 20 Jahren ein Leitmotiv der französischen Ausländerpolitik, dass sich niemand traut, die rechtsextreme Wählerschaft zu enttäuschen. Zwischen den politischen Lagern in Frankreich wird fast ausschließlich über den Zuzug von Immigranten diskutiert, obwohl das heute doch weitgehend von Brüssel vorgegeben ist.

Was die Stadtpolitik und die gesellschaftliche Integration in den 750 sogenannten sensiblen urbanen Zonen in Frankreich angeht, herrscht merkwürdigerweise ein stillschweigender Konsens im politischen Spektrum.

Stattdessen wird eine erbitterte Debatte über das Asylrecht, die Familienzusammenführung und die Grenzpolitik geführt. Da werden Islamisten mit Staatenlosen in einen Topf geworfen und eine regelrechte Kriminalisierung der Asylbewerber betrieben.

Das Gleiche gilt übrigens für die Polizeipräsenz in den Vorstädten. Deren Arbeit hat weniger mit Stadtpolitik zu tun als mit einer Diskriminierung der Banlieuebewohner. Und das führt natürlich zu Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen.

Zwei Jahre nach den ersten Ausschreitungen und der Ankündigung des damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy, die Banlieues zu ,säubern', erleben wir heute wieder brennende Autos und Gewaltexzesse in den Vorstädten.

SZ: Hat sich seit dem Herbst 2005 wirklich nichts geändert?

De Wenden: Das Bild von den Immigranten in den Vorstädten wird in den Medien heute von brennenden Autos und randalierenden Jugendlichen geprägt. Dabei werden Erfolge der Integration oft übersehen.

Man darf zum Beispiel nicht vergessen, dass es immerhin einen gewissen Anteil an Immigranten gibt, der den Weg aus der Banlieue gefunden hat. Das sind nicht immer die spektakulären Karrieren wie bei Zinédine Zidane oder bei den Absolventen der Elitehochschulen. Das sind Leute, die das Gymnasium in ihrem Stadtteil besucht haben, dann auf eine Vorort-Universität gegangen sind und dann schließlich in der Mittelklasse der französischen Gesellschaft ankommen.

Der Weg aus der Banlieue beginnt bei denen, die ihre Sozialwohnung verlassen und ein selbstbestimmtes Leben beginnen. Das gilt zum Beispiel auch für die 850 ehemaligen Vorstadtbewohner, die heute an der Eliteschule Science Po in Paris studieren.

Aber diese Menschen werden fast nicht wahrgenommen, obwohl in dem Fall die Politik der positiven Diskriminierung einige Erfolge erzielt hat. Andererseits haben wir es auf dem privaten Arbeitsmarkt, auf dem Wohnungsmarkt, in den Schulen und im Verhältnis zur staatlichen Autorität weiterhin mit Diskriminierung zu tun.

Mobilität der Banlieu-Bewohner gewährleisten

SZ: Nicolas Sarkozy hat den Präsidentschaftswahlkampf unter anderem mit der Ankündigung gewonnen, die Probleme in den Banlieues zu lösen und die Integrationspolitik zu reformieren. Welche Bilanz ziehen Sie über seine bisherige Politik?

De Wenden: Sarkozy hat erst einmal die Polizeipräsenz in den Banlieues massiv verstärkt und die Kompetenzen der Einheiten entscheidend erweitert. Leider kommt die Arbeit der Polizei aber oft einer Kriminalisierung der Banlieuebewohner gleich.

Andererseits hat man die sogenannten zones franches eingerichtet, bestimmte Bezirke, in denen Arbeitgeber steuerliche Vorteile genießen, wenn sie Immigranten einstellen. In der Praxis wird da zwar viel betrogen, aber immerhin ist das ein guter politischer Ansatz. Außerdem wurden, wie schon Jahre zuvor, die Fassaden der Hochhäuser in den Vorstädten renoviert. Innerhalb der Gebäude ist dagegen kaum etwas geschehen.

SZ: Warum nur außen?

De Wenden: Damit die 'weiße' Wählerschaft nicht den Eindruck gewinnt, ihr Bürgermeister würde ihre Stadt verkommen lassen. Was wir jetzt vor allen Dingen brauchen, ist ein Konzept, um die Mobilität der Banlieuebewohner zu gewährleisten.

Man spricht immer von Integration, aber die Ausländer sollen bitteschön in ihren Ghettos bleiben. Der Mangel an Mobilität und die Diskriminierung durch die Polizei sind meiner Ansicht nach die beiden Hauptgründe, warum wir das Problem der Vororte bis heute nicht gelöst haben.

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