"Körperwelten"-Erfinder im Zwielicht:Mephisto und der Riese von St. Petersburg

Lesezeit: 7 min

Hat Gunther von Hagens dem größten Menschen der Welt ein unmoralisches Angebot gemacht? Eine Reportage aus Sankt Petersburg über das Geschäft mit der Not.

Von Tomas Avenarius

St. Petersburg, 1. Februar - Dies ist eine Geschichte von Riesen und, ja von was - von Zwergen? Wohl kaum. Die eine der beiden Hauptfiguren ist zwar groß, sehr groß. Es handelt sich sogar um den größten Mensch der Erde.

Plastinator Hagens. (Foto: Foto: AP)

Der Mann heißt Alexander Sizonenko und lebt in Russland. Der andere sähe, allenfalls in einem ganz bestimmten Licht betrachtet, klein aus - sehr klein sogar, wenn direkt neben dem Riesen steht. Dieser Mann heißt Doktor Gunther von Hagens, ist ein weltberühmter deutscher Anatom und ein Ausstellungsmacher dazu.

Er hat versucht, mit dem Riesen näher bekannt zu werden. Über die Gründe dafür sind sich die beiden Hauptfiguren allerdings bis heute nicht einig: Der eine redet von wenig großherzigen, rein geschäftlichen Absichten, während der andere von selbstloser Hilfe spricht. Aber so manches wird dann doch ganz von selbst klar im Verlauf dieser Geschichte von den echten Riesen und den nur scheinbaren Zwergen.

Vieles ist schwer für den Riesen, viel zu vieles. Selbst die einfachen Dinge: in ein Taxi zu steigen, zum Beispiel. Die beiden Krücken muss er unter den Arm klemmen, sich rückwärts am Wagendach abstützen, den Kopf tief zwischen die Schultern ziehen und sich dann langsam nach hinten sinken lassen.

Alexander Sizonenko zwängt sich so mühsam ins Fahrzeuginnere wie ein indischer Fakir in eine winzige Kiste. 2,48 Meter Größe und 200 Kilo Körpergewicht muss er im Gleichgewicht halten: Wenn Sizonenko endlich im Auto sitzt und die Türe ins Schloss zieht, schnauft er stoßweise.

Wunderwaffe im Stadion

Alle glücklichen Menschen gleichen sich bekanntlich, während bei den Unglücklichen jeder auf seine ganz eigene Weise unglücklich ist. Das gilt auch für Alexander Sizonenko. Er ist der größte Mensch der Erde, und er leidet auf sehr eigene Weise.

Was das heißt, "Riese" zu sein? Ein Stichwort im "Guinessbuch der Rekorde", das versteht sich. Aber das war dann auch schon das Erfreulichste. Es heißt aber auch, keine Schuhe zu finden im Laden, keine Hemden, keine Hosen. Nicht in die Badewanne zu passen und kaum durch die Tür.

Und nur schwer eine Frau zu finden fürs Leben. "Auf der Straße starren mich die Leute an", sagt der 45-Jährige. "Manchmal fürchten sich die Kinder vor mir, manchmal bitten deren Eltern mich um ein Autogramm."

Sizonenkos Lebensgeschichte ist traurig. Und sie ist traurig nur wegen des Superlativs, der größte Mann der Erde zu sein. Denn die Größe macht sichtbar, dass Sizonenko krank ist.

Der 45-jährige hat einen Tumor im Gehirn, an der Hypophyse. Die reguliert das Wachstum. Wegen des Krebses spielte Sizonenkos Hypophyse von Kindheit an verrückt. Sie tut es bis heute. Sowjetische Ärzte hatten ihn operiert, ohne Erfolg. Geblieben ist die halbkreisförmige Narbe auf der Stirn, der Krebs wucherte weiter.

Sizonenko wuchs und wuchs, 2,48 Meter war er einmal. War er, weil er wegen seines immensen Gewichts längst gebückt geht und auf 2,30 Meter zusammengesunken ist: die Muskeln, die Knochen, die Bandscheiben können den Körper nicht mehr aufrecht halten.

Der Mensch ist eben nicht gemacht für zweieinhalb Meter Größe und zweihundert Kilo Gewicht. Kaum etwas funktioniert noch so, wie es sollte: Die Zähne faulen ihm weg, das Herz macht nicht mit, die Knochen werden brüchig, die Füße quellen auf. Sizonenko sagt: "Gut, dass ich immer Sport gemacht habe. Sport härtet. Auf dem Spielfeld hat keiner Mitleid."

Sein Leben verwahrt Sizonenko in einer lila Sporttasche, die unter dem Bett in seiner Sankt Petersburger Zwei-Zimmer-Wohnung liegt: Photos, Papiere, vergilbte Zeitungsausschnitte. Auch die wenigen glücklichen Momente im Leben Sizonenkos finden sich in der voll gestopften Tasche. Sie waren meist verbunden mit dem Sport.

Sizonenko spielte in der sowjetischen Basketball-Liga - wo sonst brauchte man einen Riesen? Dank seiner 2,48 Meter warf er den orangefarbenen Ball mit Leichtigkeit in den auf 3,05 Meter Höhe hängenden Korb. "Die Sowjets mit ihrem Riesen sind unschlagbar", titelte eine französische Zeitung nach einem Sowjetsieg. Den Zeitungsausschnitt hütet Sizonenko bis heute. Damals konnte man ihn brauchen, den russischen Riesen. Als Wunderwaffe im Sportstadion.

Später, als es die Sowjetunion nicht mehr gab, fand er Platz bei Unterhaltungsshows. Ein Riese ist immer eine Attraktion. Sogar nach Japan hatten sie ihn eingeladen in den Neunzigerjahren.

Die TV-Auftritte erinnern an das, was im 19. Jahrhundert auf Jahrmärkten ausgestellt wurde: Wundersame Menschen, mit zu kurzen Beinen oder überlangen Ohren. Sizonenko war zusammen mit anderen Riesen zu sehen oder mit "Mr. Bigg", 27 Zentimeter groß, 19 Pfund schwer.

Der Riese hielt den Winzling vor laufender Kamera im Arm wie eine Puppe, das Publikum klatschte entzückt, Sizonenko bekam ein paar tausend Dollar Honorar. Später hüllte er sich in ein Fell, hängte sich einen Zottelbart um und spielte in dem tschechischen Film "Das tapfere Schneiderlein" - was wohl? - den Riesen. Was etwas Geld brachte.

Kommerzieller Totentanz

Sizonenko war kurz verheiratet. Aber die Ehefrau ist ihm weggelaufen und hat den Sohn mitgenommen. Der Sohn ist so groß wie alle anderen auch, und wenn er unter etwas leidet, dann unter einem zu schwachen Herzen. Aber Sizonenko sieht ihn nicht oft, nur drei, vier Mal im Monat.

Sonst hat er nicht viel in seinem Leben. Bis vor kurzem spielte er, im Rollstuhl sitzend, Basketball in einer Behindertenmannschaft. "Aber auch die rufen nicht mehr an", sagt er. Ausgemustert, selbst beim Invalidensport.

Keiner scheint ihn zu brauchen, den Riesen. Einer ausgenommen: Doktor von Hagens. Der Heidelberger Anatom hat ihm angeboten, ihn medizinisch behandeln zu lassen.

Kostenlos, als gute Tat. Nicht, dass Sizonenko von Anfang an gewusst hätte, wer dieser Gunther von Hagens ist. Er hatte noch nie etwas gehört von dem deutschen Doktor, "Plastinator" und Macher jener Ausstellung fachmännisch präparierter Leichen, die weltweit Erfolge feiert.

Von Hagens "Körperwelten", das ist der Friedhof als moderner Wanderzirkus. Das Grauen ist im Eintritt inbegriffen: Die einen finden die Ausstellung großartig, für die anderen ist es nekrophiles Showgeschäft und kommerzieller Totentanz.

Wenn einer in Not ist, wird er oft leichtgläubig. So auch Sizonenko. Er klammert sich an alles, was kommt. Erst hatte er Kontakt zu Professor Eduard Borsiak, dem russischen Mitarbeiter von Hagens. "Dann hat mich von Hagens 1999 nach Heidelberg eingeladen, um mich und meinen herzkranken Sohn medizinisch behandeln zu lassen. Die haben alles bezahlt, auch den Flug."

In Heidelberg habe ihn von Hagens sogar zum Abendessen in sein Privathaus eingeladen. Dort hab er ihm gesagt, dass er ihm bei der Heilung seiner Krankheit nicht helfen könne. Er sei aber bereit, ihm Geld zahlen - wenn er seinen Riesenkörper nach dem Tod dem "Institut für Plastination" überlasse.

"Der Doktor sagte, wenn ich in seine Ausstellung komme, werden die Leute mich noch in 150 Jahren anschauen. Ich würde, ehrlich gesagt, lieber 150 Jahre lang leben."

Die ARD hat früher schon berichtet, dass von Hagens dem Riesen seinen Körper quasi abkaufen wollte. Danach bestritt von Hagens auf seiner Internetseite "Körperwelten" unter dem Punkt "Kontakt zum Riesen Sizonenko", dass es keinen Zusammenhang gegeben habe zwischen dem Angebot humanitärer Hilfe und einer Körperspende.

Das stimmt so nicht: Sizonenko hat bei seinen Papieren einen vierseitigen Vertragsentwurf. Darin wird die "humanitäre Hilfe für einen russischen Staatsbürger" geregelt, der seinen Körper vererbt. Als Vertragspartner wird neben dem begünstigten Russen der "Direktor des Heidelberger Instituts für Plastination, Professor Gunther von Hagens" genannt. Der Vertragsentwurf ist nicht ausgefüllt und nicht unterschrieben.

Aber er trägt die Faxkennung des IFP und eine handschriftliche Bemerkung von Professor Borsiak."

In dem Vertragsentwurf ist alles festgelegt: Dass das Testament vor laufender Videokamera unterschrieben werden muss. Dass es sich keinesfalls widerrufen lässt.

Dass der Körper direkt nach dem Tod in gutem Zustand übergeben werden muss in von Hagens Institut-Filiale in Bischkek, Kirgistan. Ein paar Monate später hat von Hagens an Sizonenko noch einen Brief geschrieben: Das Institut "möchte 100.000 Mark als Hilfe für ehemalige russische Sportler bereitstellen. Dafür ist ein persönliches Treffen notwendig in St. Petersburg."

So, wie es aussieht, war das ein faustischer Vertrag - nur dass in diesem Fall der Dr. Faust kein wissbegieriger Wissenschaftler, sondern ein hilfsbedürftiger Invalide ist und der Mephisto ein Arzt. Einer, der kranken Menschen helfen soll.

Doktor von Hagens stellt den Sachverhalt allerdings anders dar. "Ich bestreite, Sizonenko Geld für eine Körperspende angeboten zu haben."Den Vertragsentwurf kenne er nicht: "Ich habe solch ein Dokument nie gesehen." Er habe den Riesen lediglich nach Heidelberg eingeladen, weil er ihm helfen wollte: ihn und seinen herzkranken Sohn.

Außerdem sei ein Riese mit seinen Krankheiten "für jeden Anatomen von wissenschaftlichem Interesse". Über eine Plastination, da ist sich von Hagens sicher, sei "nie gesprochen worden".

Von Hagens Argumentation ähnelt der bei ähnlichen Vorwürfen: Er hat meist von nichts gewusst. Die Leichen der hingerichteten Strafgefangenen aus China zum Beispiel, die laut Spiegel in seinem Institut im chinesischen Dalian präpariert worden sind - von Hagens will damit nichts tun gehabt haben. Der Ankauf von Körpern mit Einschusslöchern im Schädel seien Entscheidungen seiner Mitarbeiter gewesen, zitiert ihn der Spiegel.

Der gute Geschmack hat keinen eigenen Paragraphen im Strafgesetzbuch, Verhandlungen über "Körper gegen humanitäre Hilfe" wären juristisch allenfalls sittenwidrig, sagen Fachleute. Wie auch immer: ein gutes Licht würden sie nicht werfen auf von Hagens und seine umstrittenen "Körperwelten".

Nur eine schmale Rente

Ausgedacht hat sich der russische Riese seine Geschichte jedenfalls nicht. Michail Gorba, ein Freund Sizonenkos aus Petersburger Basketball-Zeiten, bestätigt, zweimal mit Professor Borsiak über Sizonenkos mögliche Plastination gesprochen zu haben: "Der Vorschlag war, dass Alexander lebenslang eine Art Stipendium bezieht."

Man habe ihm aus Heidelberg Vertragsentwürfe gefaxt. Sizonenko habe nicht unterschreiben wollen. Er habe gefürchtet, "dass ihm irgendetwas Unerfreuliches passiert, wenn er unterschreibt."

Sizonenko weiß, dass seine Lebenserwartung nicht hoch ist. Inzwischen kann er nicht einmal die Medikamente bezahlen, mit dem das Durcheinander seiner Hormone im Kopf gestoppt werden kann. Rund 400 Dollar im Jahr braucht er.

Aber was Hilfe angeht, ist Russland nicht gnädig. Eine schmale Rente bekommt Sizonenko vom Staat, Brot und ein paar Lebensmittel bringen sie einmal die Woche vorbei, die Nachbarn helfen. Mehr ist da nicht. Möglicherweise war er also zu irgend einem Zeitpunkt einverstanden mit dem umstritten Deal? Möglicherweise hat er einfach einmal gepokert in seinem kläglichen Leben?

Wahrscheinlich graute es ihm dann aber doch bei der Vorstellung, ausgestellt zu werden zwischen all den Leichen dieses deutschen Doktors: zwischen Schachspielern, Läufern und dem Mann mit der eigenen Haut in der Hand. Vielleicht gibt es ja auch eine angenehmere Art des Nachruhms, als nach dem Tod angestarrt zu werden - als der Riese in welcher Körperwelt auch immer.

© SZ vom 2.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: