Motto des Kirchentages:Eine Tugend gegen das Übel der Welt

Evangelischer Kirchentag 2015

Wie begegnet man einer Welt, die aus den Fugen geraten ist? Der Kirchentag versucht, darauf eine Antwort zu geben.

(Foto: dpa)

Das Leitwort des diesjährigen Kirchentages lautet "Klugheit". Das klingt langweilig, spaßfrei und etwas bräsig. Doch so, wie sich die Lage der Welt gerade darstellt, geht es genau darum: klug zu sein.

Kommentar von Matthias Drobinski

Klug, das klingt ungefähr so attraktiv wie "flott". Der Kluge lässt abends das letzte Glas Wein stehen. Der Klügere gibt nach und kämpft nicht. Hat der Mann den ganzen Abend Besserwisserei abgesondert, sagt die Frau auf dem Nachhauseweg sarkastisch: "Du bist so klug, Schatz"; es soll auch Paare geben, bei denen das der Mann zur Frau sagt.

So gesehen steht das Leitwort des evangelischen Kirchentags, der an diesem Mittwoch in Stuttgart beginnt, für alles, was man am deutschen Protestantismus langweilig, spaßfrei und besserwisserisch finden kann: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden," hat Martin Luther den zwölften Vers des 90. Psalms ziemlich frei übersetzt.

Treffendes Motto

Tatsächlich aber trifft die altmodische Bitte um Klugheit ziemlich gut, worauf es gerade ankommt im Land. Viele der mehr als 100 000 Christen, die sich über das lange Fronleichnamswochenende hinweg treffen, treibt die Wahrnehmung um, dass die Weltlage ziemlich düster geworden ist und die ethischen Maßstäbe, sie zu bewerten, brüchig.

Kann man noch vom Frieden singen, wenn die Kopfabschneider vom Islamischen Staat den halben Nahen Osten überrennen? Kann man Russlands Präsident Wladimir Putin verstehen oder muss man der Ukraine helfen? Wie viele Flüchtlinge kann, soll Deutschland aufnehmen? Die Klimakatastrophe droht, die digitale Welt birgt nicht mehr Verheißung, sondern Schrecken, und wer die Angst vorm Sterben schön weit weggeschoben hatte, dem bringt sie die Debatte um den assistierten Suizid wieder nahe.

Keine schönen Aussichten. Und so hat sich gerade unter jenen, denen die Welt nicht egal ist, das Gefühl verbreitet, unbeeinflussbaren Entwicklungen und Mächten ausgeliefert zu sein, gegen die alle Mühe und alles Engagement nichts hilft, an denen all die guten und richtigen Programme zur Rettung der Welt in Scherben springen. Man lebt in einem wohlbehüteten und wohlhabenden Land, in dem die Probleme der Welt bislang nur als Überraschungsgast vorbeischauen - und spürt doch, dass man Teilnehmer und Zeitgenosse dieser Welt ist, die da aus den Fugen zu geraten droht, ob man nun will oder nicht, ob man im Bio- oder im Supermarkt einkauft. Theologisch gesagt: Man ist sündiger Teilnehmer in einer strukturell sündigen, ungerechten, gewalttätigen Welt, man braucht dafür noch nicht einmal den Nachbarn zu ohrfeigen.

Klugheit ist nicht Cleverness und nicht Intelligenz

Man kann das so betrachten und dann resignieren, zynisch oder depressiv werden. Man kann sich aber auch in Klugheit üben. Klugheit ist nicht Cleverness und nicht Intelligenz, manchmal stehen sogar Intelligenz und Cleverness der Klugheit im Weg. Sie ist nicht Pragmatismus, der das Nächstliegende zur einzigen Alternative erklärt. Sie stellt aber auch nicht das Himmelreich auf Erden in Aussicht; sie lässt im Gegenteil den moralischen Aufgeblasenheiten die Luft ab. Wer sich in Klugheit übt, lernt tastend Wege zu suchen und zu gehen, Umwege zu respektieren und allzu cleveren Abkürzungen zu misstrauen. Die Klugheit ist die Tugend des pragmatischen Imperativs, der die Vision nicht vergisst, aus der er lebt. Sie kennt die Grenzen der Kraft und respektiert das Vorläufige. Sie bekämpft aber die Enge, die Verhärtung und jede breitärschige Selbstgenügsamkeit.

". . . damit wir klug werden" - das ist die Bitte des Kirchentags zum Himmel um aufgeklärten und lebensklugen Bürgersinn. Es ist eine im besten Sinne protestantische Bitte. Dieser Bürgersinn schien in den vergangenen Monaten oft verdunstet und vertrocknet zu sein in all der Pegida-Hysterie, der Islam- und allgemeinen Zukunftsangst, dem Denken in Feindeskategorien, im Gerede von der Alternativlosigkeit des Weltlaufs, das ja genauso eine Ideologie ist wie die sozialistische Erlösungsvision.

Eigeninitiative statt warten auf irgendeine Macht

Der Kirchentag zeigt, dass es diesen Bürgersinn gibt. Es gibt viel mehr Menschen als oft wahrgenommen wird, die nicht warten, bis irgendeine Macht etwas tut, sondern die selber und in eigener Verantwortung Flüchtlinge aufnehmen, sich um Kinder, Alte, Behinderte kümmern, fairen Kaffee verkaufen und Klimapartnerschaften schließen. Sie wissen, dass das alles Grenzen hat, sie machen das trotzdem unverdrossen, als kleine Propheten einer anderen Welt, wo den großen Propheten die Posaunentöne abhanden gekommen sind.

Im Individuellen darf dieser Bürgersinn jedoch nicht stehen bleiben. Er muss die politische Debatte und den Streit über den richtigen Weg einer Kirche, eines Landes und Kontinents suchen und wollen. Wenn das der Kirchentag in Stuttgart organisierte, hätte er Großes geleistet: Er hätte einen Ort der klugen, kontroversen Suche geschaffen. Orte, an denen Selbstgewissheiten präsentiert werden, gibt es schon genug.

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