Kinder in Rumänien:Ausgesetzt im Waisenhaus

Tausende rumänische Eltern lassen ihre Kinder im Stich. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt die humanitäre Hilfe aus dem Westen.

Franziska Brüning

Als Razvan Suculiuc sich erhängte, weil ihn seine Mutter allein in Rumänien zurückgelassen hatte, war er erst zehn Jahre alt. Der Fall ging 2006 durch die europäische Presse und wurde dennoch bald wieder vergessen. Dabei ist sein einsames Kinderleben kein Einzelfall. Mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche wachsen derzeit in Rumänien ohne Eltern auf.

Kinder in Rumänien: Der kleine Nicolae wird von seinem Großvater ausgezogen - wie die meisten rumänischen Heimkinder ist auch er keine "echte" Waise

Der kleine Nicolae wird von seinem Großvater ausgezogen - wie die meisten rumänischen Heimkinder ist auch er keine "echte" Waise

(Foto: Foto: AFP)

Das 22 Millionen Einwohner zählende Land gehört damit zusammen mit Bulgarien zu den EU-Ländern mit den meisten Waisenkindern. Zum Vergleich: Deutschland hat bei 82 Millionen Einwohnern etwa 64.000 Heimkinder. Auch wenn es den rumänischen Waisen heute materiell weitaus besser geht als nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur, gehören sie noch immer zu den gesellschaftlichen Verlierern.

"Im Heim geht es ihnen besser als bei uns"

Nach wie vor sind die wenigsten von ihnen echte Waisen. Tatsächlich wird ein Großteil der Kinder und Jugendlichen noch wie zu kommunistischen Zeiten von den Eltern im Stich gelassen. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt die humanitäre Hilfe aus dem Westen.

Die erschreckenden Bilder aus rumänischen Waisenheimen nach dem Ende des Regimes von Nikolae Ceausescu, die verwahrloste Kinder zeigten, welche teilweise im eigenen Kot und verfaultem Stroh saßen und sich apathisch hin und herwiegten, hatten in den neunziger Jahren eine Welle ausländischer Hilfsbereitschaft ausgelöst.

Noch immer kümmern sich verschiedene kirchliche und Nichtregierungsorganisationen um die zahlreichen Heime in Rumänien, für die sie regelmäßig Spenden sammeln. Auch ein Teil der bis 2013 für Rumänien vorgesehenen EU-Fördermittel für soziale Projekte in der Höhe von 559 Millionen Euro fließt in den Erhalt und den Ausbau der verschiedenen Einrichtungen.

"Diese Hilfe ist gut gemeint, aber sie hat fatale Folgen. Sie veranlasst rumänische Eltern dazu, ihre Kinder einfach abzugeben, nach dem Motto, im Heim geht es ihnen ohnehin besser als bei uns", sagt René Mérite.

Im Dezember 1989 fuhr der heute 60-jährige Franzose begleitet von Journalisten den ersten mit ausländischen Hilfsgütern beladenen Lastwagen nach Bukarest. Seitdem ist Mérite, der jahrelang unter anderem für den Armenpriester Abbé Pierre und dessen Wohltätigkeitsorganisation Emmaus International, die Caritas und den französischen Secours catholique gearbeitet hat, jedes Jahr in Rumänien.

Dank seiner Hilfe und der Unterstützung des Deutschen Caritas-Verbandes ist in der Nähe von Lugosch auch eine von Behinderten geführte Firma entstanden, die Prothesen herstellt. Das Unternehmen gehört zu den wenigen sozialen Projekten, in denen sich die Rumänen selbst für die Schwachen in ihrer Gesellschaft engagieren und sich nicht auf ausländischer Hilfe ausruhen. In der postkommunistisch geprägten Gesellschaft, in der 25 Prozent der Einwohner unterhalb der Armutsgrenze leben, ist das keine Selbstverständlichkeit.

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Ausgesetzt im Waisenhaus

Die große Zahl der Waisenkinder in Rumänien ist die Folge von zwei sozialen Missständen, mit denen das Land zu kämpfen hat: Die wirtschaftliche Situation, die Fachkräfte aus dem Land treibt und die Nachwirkungen der menschenverachtenden Familienpolitik Ceausescus.

Die Arbeitslosenquote in Rumänien hat zwar mit derzeit 4,1 Prozent den niedrigsten Stand seit 1992 erreicht, dafür liegen die durchschnittlichen Monatslöhne trotz massiv steigender Lebenshaltungskosten nur bei 350 Euro.

Etwa drei Millionen Rumänen haben deswegen ihre Heimat verlassen, um in anderen EU-Ländern wie Spanien, Italien oder Deutschland zu arbeiten. Die meisten von ihnen nehmen aber ihre Kinder nicht mit. Das staatliche Kinderschutzamt geht von mehr als 82.000 Kindern aus, die auf ihren Vater oder ihre Mutter verzichten müssen, weil sie ins Ausland abgewandert sind. 20.000 Kinder wurden von beiden Elternteilen verlassen.

Depressionen, Kriminalität, Selbstmorde

René Mérite kennt außer Razvan Suculiuc noch andere Fälle von Kindern, die sich so einsam fühlten, dass sie sich umbrachten. Selbstmorde unter den sogenannten EU-Waisen sind ein bekanntes Problem in Rumänien. Viele von den allein gelassenen Kindern werden depressiv oder rutschen in die Kriminalität ab, selbst wenn ihre Eltern ihnen regelmäßig Geld überweisen und sie in vergleichsweise geordneten Verhältnissen beispielsweise im Heim oder bei der Großmutter aufwachsen.

Die Leichtigkeit, mit der sich Eltern von ihren Kindern trennen, hat auch mit den Folgen der Familienpolitik Ceausescus zu tun. "Man darf nicht vergessen, dass Abtreibung verboten war und die Frauen regelmäßig kontrolliert wurden, ob sie schwanger waren. Ceausescu trat dafür ein, dass die vielen ungewollten Kinder ins Heim gegeben wurden. Sie sollten dort in seinem Sinne erzogen werden", sagt Mérite, der sich sicher ist, dass dieser kaltschnäuzige Umgang mit Kindern auch noch heute die rumänische Gesellschaft prägt.

"Mit jeder finanziellen Hilfe aus dem Ausland unterstützen wir dieses Verhalten und helfen letztlich niemandem", sagt Mérite, "Rumänien braucht eine starke Wirtschaft und Landwirtschaft, die von ihren mafiösen Strukturen befreit wird und mehr soziales Verantwortungsbewusstsein. Hier denkt jeder erstmal nur an sich. Nur Symptome zu behandeln, hilft da nicht weiter."

Die Emmaus-Organisation in der Stadt Iasi versucht deswegen, die verlorengegangene Solidarität untereinander wiederzubeleben. Ihre generationsübergreifende Gemeinschaft, die sich mit Handwerksarbeiten selbst finanziert, bietet einkommensschwachen Familien, Waisen und Alten nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Einzige Voraussetzung: Jeder muss bereit sein, für den anderen Verantwortung zu übernehmen.

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