Katastrophe in Köln:Einsturz aller Gewissheiten

Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs ist noch unklar, wer für das Unglück verantwortlich ist. Es gab Fehler beim Bau und Warnungen, die niemand ernst nahm.

D. Graalmann, J. Nitschmann und M. Widmann

Die Kölner rühmen sich gerne ihrer besonderen, ihrer lässigen Art. Mit Verordnungen und Gesetzen nähmen sie es nicht ganz so genau, erzählen sie gerne. "Et es wie et es, et kütt wie et kütt und et hätt noch immer jot jejange", lauten die Artikel eins bis drei im "Kölschen Grundgesetz".

Katastrophe in Köln: Helfer suchen noch immer im Schutt nach Archivalien.

Helfer suchen noch immer im Schutt nach Archivalien.

(Foto: Foto: AP)

Am 3. März dieses Jahres trat dieses Grundgesetz außer Kraft. Das sechsgeschossige Historische Archiv stürzte ein, zwei Menschen wurden in dem Trümmer-Krater begraben. Auslöser des Unglücks soll der benachbarte U-Bahn-Bau sein - eine gewagte Konstruktion auf unsicherem Baugrund und in einer hohen Grundwasserströmung. Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Baugefährdung. Noch gegen unbekannt. Haben die Stadtspitze und der Bauherr, die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB), Warnungen in den Wind geschlagen?

Es gab Warnungen

Eine dieser Warnungen kam am 30. September 2008 aus Aachen vom Hochschul-Institut für "Geotechnik im Bauwesen". In der 84-seitigen Studie, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, hatten die Wissenschaftler die Gefahr eines "hydraulischen Grundbruchs" bei den Tunnel-Haltestellen des Kölner U-Bahn-Baus ins Kalkül gezogen. "Die üblichen Berechnungsverfahren" für die Statik der über 30 Meter hohen Seitenwände, der sogenannten Bauschlitzwände, werden von den Gutachtern angesichts der "außergewöhnlichen Randbedingungen" in Köln als zu ungenau verworfen. Wegen des geschichteten, instabilen Baugrunds und des starken Grundwasserdrucks hätten sich die "einfachen Näherungsverfahren als auf der unsicheren Seite liegend" erwiesen.

Derzeit ist unklar, ob die Statik der 28 Meter tiefen Baugrube am Kölner Waidmarkt, in die das Stadtarchiv hineingestürzt war, auf den von in dem Gutachten kritisierten Berechnungsmethoden basiert. Der KVB-Vorstand ließ entsprechende Anfragen der SZ unbeantwortet. Laut Gutachten war der Bauherr KVB in seiner Ausschreibung für die U-Bahn-Gewerke davon ausgegangen, dass bei den Schlitzbauwänden eine Mindestbindetiefe von zwei Metern in die tertiäre Bodenschicht "ausreichend gewesen wäre".

Mittels der als berechnungssicher geltenden Finiten Elementen Methode (FEM) seien jedoch Einbindetiefen von "sechs Metern im Tertiär" zur Absicherung gegen einen hydraulischen Grundeinbruch ermittelt worden. Durch zu geringe Einbindetiefen, heißt es in dem 84-seitigen Gutachten, könnten "Situationen entstehen, welche nicht nur wirtschaftlichen Schaden mit sich bringen, sondern unter Umständen auch Menschenleben gefährden".

Geiz ist nicht geil

Wie lax bei dem Kölner Großprojekt Sicherheitsstandards gehandhabt wurden, belegen nach Ansicht der Ingenieurkammer-Bau in Nordrhein-Westfalen bereits die Ausschreibungsmodalitäten für die Prüfingenieure. Die Leistungen seien "nur nach dem Zuschlagskriterium niedrigster Preis" vergeben worden, beklagt Kammer-Präsident Peter Dübbert. Das belegt auch die öffentliche Bekanntmachung der KVB: "Der niedrigste Preis" wird dort als einziges Zuschlagskriterium genannt. Für sechs der zwölf U-Bahn-Baulose lag die Spannbreite der Angebote immerhin zwischen 562.590 Euro und 1,421 Millionen Euro.

Der niedrigste Bieter, ein Prüfingenieur aus München, hatte den Zuschlag erhalten und dabei auch die Statik des Bauloses an der Unglücksstelle am Kölner Waidmarkt überprüft. Er könne "nicht begreifen, sagt Dübbert, dass "solch höchst sensible und sicherheitsrelevante" Arbeiten nach Billigstgeboten vergeben werden. Die Kalkulation des beauftragten Prüf-Ingenieurs sei "nach einer deutlich zu niedrigen Bauwerksklasse" erfolgt. Damit sei der Kölner-U-Bahn Bau "wie eine Doppelgarage in einem Hinterhof" bewertet worden, empört sich ein Prüfingenieur des Landes.

Das Bauministerium ist eingeschaltet

Die Ingenieurkammer-Bau in Nordrhein-Westfalen hat inzwischen auch das Düsseldorfer Bauministerium wegen der unzureichenden Sicherheitsstandards beim Kölner U-Bahn-Bau alarmiert. Die Prüfleistungen und sämtliche planerischen Tätigkeiten könnten "generell nicht in einem reinen Preiswettbewerb" vergeben werden, sagte der Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Prüfingenieure, Manfred Tiedemann, der SZ. "Das ist in höchstem Maße unverantwortlich. Das Motto 'Geiz ist geil' geht hier nicht", sagt Tiedemann, der für eine Kontrolle durch staatliche Einrichtungen plädiert. "Der Markt regelt gar nichts, Sicherheit für Leib und Leben ist nicht verhandelbar."

Nach Bekanntwerden der Erweiterung von ursprünglich vier auf insgesamt 15 Brunnen an der Unglückbaustelle sieht das Vorstandsmitglied der Ingenieurkammer Bau "ein eklatantes Versagen der Bauaufsicht". Aber was heißt im Fall Köln schon Bauaufsicht? Die Bauüberwachung am Unglücksort Waidmarkt liegt ohnehin bei der KVB, die Bauaufsicht dagegen eigentlich bei der Technischen Aufsichtsbehörde, der Bezirksregierung Düsseldorf.

Im Planfestellungsbeschluss vom 30. April 2002 aber wurde sogleich festgelegt, dass die Aufsicht auf die Stadt Köln, in diesem Fall die KVB übertragen werde. Und die wiederum, gestand KVB-Vorstand Walter Reinarz laut Teilnehmerangaben auf der Aufsichtsratssitzung am Dienstag, hätten die Bauaufsicht ihrerseits an die ausführenden Firmen übertragen. Wer baut, beaufsichtigt sich gleich selbst. So praktisch ist das in Köln. Die KVB ließ im Übrigen eine entsprechende Recherche-Anfrage der SZ unbeantwortet.

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Falsche Informationen

In Köln herrscht das fortgesetzte Prinzip der kollektiven Verantwortungslosigkeit: A verweist auf B, der alle Verantwortung auf C überträgt, der wiederum hofft, dass er die Schuld wieder bei A abwälzen kann. Es ist ein sich selbst erhaltendes System in der Hoffnung, dass die Öffentlichkeit sich irgendwann entnervt von den Zänkereien abwendet und dabei die Schuldfrage vergisst. In der Frage, welche Behörde die zusätzlichen Brunnen hätte entdecken müssen, geben sich Stadt und Bezirksregierung derzeit munter gegenseitig die Verantwortung.

Und KVB-Vorstand Walter Reinarz, der noch am Mittwoch erklärt hatte, dass die abgepumpte Wassermenge "auf der gesamten Strecke unterhalb des zulässigen Wertes gelegen habe", sagte laut Teilnehmern der Aufsichtsratssitzung nun, "dass ein Mitarbeiter ihn da falsch informiert" habe. Das werde "persönliche Konsequenzen haben", soll Reinarz gedroht haben.

So wandert ein Schwarzer Peter durch Köln, heimatlos. Der Sprecher des ARGE-Führers Bilfinger Berger, Martin Büllesbach, teilte auf SZ-Anfrage mit, dass "aus unserer Sicht die Faktenlage völlig ungeklärt ist und es von daher völlig unverantwortlich ist, sich jetzt an Spekulationen zu beteiligen."

Schiefe Türme und marode Mauern

Doch Fakten gab es reichlich: Den schiefen Turm der Kirche St. Johann Baptist im September 2004 etwa, die Schäden in der Kirche St. Maria Kapitol zwei Monate später. Im August 2007 musste gar der Turmkeller des Rathauses, der für Trauungen genutzt wird, geschlossen werden, weil sich der Ratsturm leicht geneigt hatte. Alles im grünen Bereich, beruhigte die KVB stets. Setzungsrisse seien nicht zu vermeiden, aber es gäbe Gutachten, die auf die Ungefährlichkeit hinweisen. Auch viele Experten vermuten, das es keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Setzrissen und dem Unglück am 3. März gibt - aber hätten die Pannen nicht vorsichtiger machen müssen?

Auch das Historische Stadtarchiv fand sich schon vor dem Zusammenbruch in einem schlechten Zustand. "Das Gebäude war total marode", sagte Direktorin Bettina Schmidt-Czaia nach dem Einsturz. "Ich habe immer gesagt, dass wir glücklich sein müssen, wenn es uns gelingt, das Archiv gut aus diesem Haus rauszukriegen." Die Mitarbeiter entdeckten Risse im Keller des Gebäudes und alarmierten die Stadt.

Am 18. Dezember 2008 ließ Baudezernent Bernd Streitberger einen Ingenieur aus Leverkusen kommen, um den Beschwerden der Mitarbeiter nachzugehen. Seine Erkenntnis der Überprüfung erstreckt sich auf gerade einmal neun Sätze und 23 Zeilen. "Unbedenklich" seien die Schäden, schreibt der Prüfer knapp, das Gebäude sei im jetzigen Zustand "ausreichend standsicher". Der Stadt Köln dienten die dürren Worte als Blankoscheck. Alles bestens.

Dabei lautete der letzte Satz der Stellungnahme: "Um eine genaue Ursache für das unterschiedliche Seegangsverhalten herauszufinden und um eventuelle weitere Schäden am Gebäude zu vermeiden, empfehle ich Ihnen, einen öffentlich anerkannten Sachverständigen für Bauwerksschäden einzuschalten." Passiert ist das nicht.

"Heute würde man so einen Satz anders lesen", gestand Baudezernent Streitberger. Aber eben erst heute. Dabei sagt Josef Steinhoff, Professor an der Kölner Fachhochschule und selbst Gutachter, habe der Prüfer mit diesem Satz zugegeben, dass er sich nicht ausreichend befähigt fühlte, die Ursachen zu bewerten. "Wenn man dem nicht nachgeht", sagt Steinhoff, "muss das jemand verantworten". Doch dieser Jemand wird in Köln gesucht.

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