Justizopfer:Freiheit in der Wüste

Ex-Todeskandidatin Debra Milke

Der erste öffentliche Auftritt nach der Freilassung: Debra Milke am Dienstag bei ihrer Pressekonferenz in Phoenix, Arizonas Hauptstadt.

(Foto: Jarod Opperman/dpa)

24 Jahre saß die gebürtige Berlinerin Debra Milke in Arizona im Gefängnis. Zu Unrecht. Jetzt verklagt sie die Behörden- und dankt ihren deutschen Unterstützern.

Von roman deininger und Nicolas Richter

Der kleine Christopher liebte Kaugummi, er liebte es vor allem, wenn seine Mutter einen "bubble gum" zu einer großen Blase aufpustete. "Dann hat er seinen Finger in die Blase gesteckt und der ganze Kaugummi legte sich über mein Gesicht", erzählt seine Mutter. Das sind die Erinnerungen von Debra Milke an ihren Sohn, als er vier Jahre alt war.

Es sind danach keine weiteren Erinnerungen dazugekommen. Zwei Männer - der eine Milkes damaliger Freund - haben "Chris" in die Wüste gefahren und erschossen, drei Kugeln in den Hinterkopf. Es gibt kaum etwas Schlimmeres, sagt Milke, als das eigene Kind an einen Mörder zu verlieren. Schlimmer sei es nur, wenn einen die Justiz verdächtige, dass man sein Kind selbst ermordet habe.

Genau das ist Debra Milke passiert.

Ein Strafgericht in Arizona hat die in Berlin geborene Amerikanerin 1990 zum Tode verurteilt - zu Unrecht, wie sich später herausstellte. 24 Jahre hat sie in Haft verbracht, 22 davon im Todestrakt. 1998 hatte sie schon die Henkersmahlzeit ausgewählt, als ihre Verteidiger eine Verschiebung der Hinrichtung erwirken konnten.

Am Dienstagabend deutscher Zeit hat sie nun bei einer Pressekonferenz in Phoenix zum ersten Mal in der Öffentlichkeit gesprochen, ihre Anwälte an ihrer Seite. Gleich zu Beginn beteuerte Milke ihre Unschuld: "Als Erstes möchte ich sagen, dass ich absolut nichts mit dem brutalen Mord an meinem Sohn Christopher zu tun habe." Sie habe immer gewusst, dass ihre Unschuld eines Tages anerkannt würde, nicht aber, dass es so lange dauern würde, "diesen Fehlschlag der Justiz zu korrigieren".

Milke, inzwischen 51, trägt eine Brille, Perlenkette, das weiße Haar sorgfältig frisiert. Sie wirkt gefasst, aber noch immer verletzlich. Sie liest vom Blatt ab, oft versagt ihre Stimme. Einmal, als sie ihren Sohn erwähnt, muss sie lange innehalten, dann sagt sie: "Ich lebe mit einem dauernden Verlustgefühl." Sie beklagt da noch gar nicht die Freiheit, die ihr genommen wurde, sondern ihren Verlust als Mutter.

Am 3. Dezember 1989, in Deutschland war gerade die Mauer gefallen, wollte Milke, die Tochter eines US-Soldaten, auf einer Polizeiwache aussagen, weil ihr Sohn verschwunden war. Es erschien Detective Armando Saldate vom Phoenix Police Department, er schickte alle Zeugen aus dem Zimmer und zeichnete das Gespräch nicht auf. Später behauptete er, Milke habe gestanden. Sie habe die Täter angestiftet zum Mord an Christopher.

Die Geschworenen glaubten dem Polizisten - und nicht der alleinerziehenden Mutter aus schwierigen Verhältnissen. Aber sie wussten nicht, was den Vorgesetzten Saldates und der Staatsanwaltschaft längst bekannt war: Der Detective hatte bereits zuvor die Rechte von Verdächtigen missachtet, Geständnisse erzwungen und unter Eid vor Gericht gelogen. Polizei und Justiz in Arizona geben sich gern unerbittlich, aber im Fall Milke haben sie versagt und Saldates Verfehlungen einfach vertuscht. "Böse Cops und all jene, die sie tolerieren, bringen uns alle in eine unmögliche Lage", sagt Milke am Dienstag, es ist ein Zitat des Berufungsrichters Alex Kozinski. Der hatte Milkes Fall 2013 überprüft und das Urteil gegen sie verworfen. Besonders schwer wiege das Versagen der Staatsanwaltschaft, erklärte Kozinski: Laut Verfassung hätten die Ankläger nicht nur alle belastenden, sondern auch alle entlastenden Beweise offenlegen müssen. Dazu hätte die lange Liste der Verfehlungen Saldates gehört.

Schauspielerin Uschi Glas hofft, "Debbie" bald treffen zu können

Weil der Staat Arizona bis zuletzt einen neuen Prozess gegen Milke forderte, hat es noch zwei Jahre gedauert, bis zum Montag dieser Woche, bis das Strafverfahren gegen Debra "Debbie" Milke endgültig eingestellt wurde. Die beiden Männer, die für den Mord verurteilt wurden, warten bis heute auf ihre Hinrichtung. Ihre Aussagen widersprechen sich, es ist nicht klar, warum sie Chris töteten. Für die Theorie der Staatsanwaltschaft, dass Milke die Männer angestiftet habe, um ihren Sohn loszuwerden, fand sich nie auch nur ein Beweis. In Arizona halten viele Kommentatoren Milke dennoch weiterhin für schuldig. "Sorry, ich vergieße keine Tränen für Debra Milke", schreibt eine Kolumnistin der führenden Tageszeitung Arizona Republic.

Inzwischen hat Milke ein Dutzend Beamte und Behörden in Arizona verklagt. Sie wirft Polizei und Justiz vor, Beweise manipuliert zu haben. So habe Saldate behauptet, sie habe gefühllos auf die Todesnachricht reagiert. Er habe auch Zeugen zu der Aussage gedrängt, sie sei eine schlechte Mutter gewesen. Milke warnt am Dienstag ihre Zuhörer, dass das, was ihr passiert sei, "jedem von euch passieren könnte". Und sie dankt ihren Anwälten und "Tausenden Menschen", die immer an ihre Unschuld geglaubt und sie aus der Ferne unterstützt hätten. "Mein Herz ist gefüllt mit enormer Dankbarkeit", sagte Milke.

In München darf sich da die Schauspielerin Uschi Glas durchaus angesprochen fühlen. 1996 hatten Todesstrafengegner Glas auf den Fall aufmerksam gemacht, sie hat sich dann durch Regalmeter an Akten gelesen. Glas sagt: "Seitdem bin ich von Debbies Unschuld überzeugt." Sie hat engen Kontakt gepflegt zu Milkes inzwischen verstorbener Mutter, Milkes Anwälte getroffen, eine selbst produzierte DVD über den Fall an Freunde verschickt. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz ließ sie sich als Dinner-Tischdame von John McCain einschleusen - in der vergeblichen Hoffnung, den Senator aus Arizona für ihre Sache gewinnen zu können. "Ich hoffe, dass die Debbie mit der Vergangenheit abschließen kann", sagt Glas jetzt. "Und ich würde sie natürlich gerne bald treffen."

Debra Milke hat Jahrzehnte ihrer Freiheit verloren und ihren Sohn. Die Erinnerungen an ihn sind ihr geblieben, an Christophers Kichern, wenn der Kaugummi in ihrem Gesicht landete. "Niemand", sagt Debra Milke, "kann sie mir jemals nehmen."

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