Justiz:Unheilkunde

Der Bottroper Apotheker Peter S. soll Krebs-Medikamente aus Profitgier verdünnt haben. Kann man ihm auch nachweisen, dass er für den Tod von Patienten verantwortlich ist? Ein Prozess in Essen.

Von Christian Wernicke, Essen

Heike Benedetti trägt schwarz. Ihre Fingernägel hat sie grau lackiert, an ihrer Bluse steckt eine weiße Rose. Benedetti ist eine Überlebende, fünf von zehn Freundinnen jedoch, mit denen sie vor drei Jahren den Kampf gegen den Krebs aufnahm, sind inzwischen tot. Benedettis Hände zittern, als an diesem Montag gegen halb zehn Uhr Peter S. den Raum betritt: "Nicht vor Wut, aber ich bin immer wieder erschüttert", sagt sie später.

Zum ersten Mal sitzt Benedetti nun Peter S. gegenüber: Den unscheinbaren, fast kahlköpfigen Angeklagten machen Benedetti und Tausende Betroffene verantwortlich für den Tod von Verwandten, von Freunden. Und für eigenes Leid. Peter S., der Bottroper Apotheker, soll jahrelang wirkungslose Krebsmedikamente gepanscht und vertrieben haben. Auch Benedetti bekam 2014 die Infusionen ihrer Chemotherapie aus der "Alten Apotheke". Benedetti hat gekämpft für diesen Prozess, hat in Bottrop sogar Demos vor der Apotheke mit organisiert, um die Behörden wachzurütteln. Jetzt starrt sie zu Peter S., sucht den Augenkontakt zum Angeklagten. Als "teilnahmslos und ungerührt" nimmt sie den 47-jährigen Mann wahr, "der tut so, als ginge ihn das alles hier nichts an."

Es ist einer der größten Medizinskandale bundesdeutscher Geschichte, der in Essen aufgearbeitet wird. In 61 980 Fällen soll Peter S. gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen haben. Die Staatsanwaltschaft und inzwischen 18 Nebenkläger - betroffene Patienten sowie Angehörige von Verstorbenen - werfen S. vor, 35 verschiedene Krebsmedikamente (so genannte Zytostatika) massenhaft gestreckt, also weit niedriger als angegeben dosiert zu haben. Die enorm teuren Wirkstoffe haben alle ein Ziel: das Wuchern der Krebszellen einzudämmen - und Leben zu retten.

Peter S. soll, so die Anklage, mit dem Leben seiner Patienten gespielt haben. Aus Profitsucht, aus Geldgier. Mal um ein Drittel, mal um 90 Prozent soll er die Wirkstoffe verdünnt haben, die er in Infusionsbeuteln (für die Chemotherapie) oder in Spritzen (für die Behandlung mit Antikörpern) auslieferte. Manchmal fand sich auch nur Kochsalzlösung im Beutel. Die "Alte Apotheke", seit vier Generationen im Familienbesitz, belieferte von Januar 2012 bis November 2016 mindestens 38 verschiedene Praxen und Kliniken. Die gepanschten Präparate aus Bottrop, so die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft, gingen an 4600 Patienten in sechs Bundesländern. Den Gesamtschaden schätzt die Anklage auf 56 Millionen Euro, von S. penibel saldiert in 59 Monatsabrechnungen gegenüber 128 Krankenkassen und Berufsgenossenschaften. Mutmaßlicher Reingewinn: 2,5 Millionen Euro.

Patientendemo zum Apothekerskandal

Im Oktober fand aus Protest gegen den des Panschens beschuldigten Pharmazeuten ein Protestzug durch die Bottroper Innenstadt statt. Die Apotheke betrieb der Angeklagte Peter S. zuletzt in der vierten Generation.

(Foto: Funke Foto Services)

Am Montag tauchen die 59 Abrechnungen nun wieder auf - als 59-facher Vorwurf des gewerbsmäßigen Betrugs, verlesen von Staatsanwalt Rudolf Jakubowski. Allein dafür drohen Peter S. zehn Jahre Haft. Nur, wegen Mordes, Totschlags oder auch nur fahrlässiger Tötung muss sich der Angeklagte eben nicht verantworten: Den kausalen Beweis, dass ein Patient infolge verdünnter Anti-Krebs-Medikamente aus Bottrop verstarb, glaubt Jakubowski nicht erbringen zu können. Heike Benedetti empört das. Sie und drei Leidensgenossinnen lassen gleich nach Verlesung der Anklageschrift ihre Anwälte verlangen, das Verfahren vor der auf Wirtschaftsdelikte spezialisierten Strafkammer auszusetzen und an ein Schwurgericht zu überweisen. Sie wollen S. nicht nur wegen Betrugs verurteilt sehen - sondern wegen der Tötung von Menschen. Aykan Akyildiz, einer der Anwälte, spricht sogar von Mord: Peter S. habe ahnungslosen Patienten nutzlose oder gar schädliche Medikamente verabreicht - "da ist die Schwelle zur Heimtücke schnell erreicht."

Selbst, wenn klare Beweise fehlen sollten: Es gibt Schicksale, wie sie etwa Annelie Scholz erzählt. Ihre krebskranke Tochter Nicole erhielt ihre Arzneien ebenfalls aus der Bottroper Apotheke. Doch die Medizin zeigte keinerlei Wirkung, der Tumor wuchs ungebremst. Als vor knapp einem Jahr die Polizei Peter S. festnahm, hörte Nicole davon im Radio. Annelie Scholz erinnert sich, wie ihre Tochter in Tränen ausbrach: "Mama, ich krieg doch auch meine Medikamente von dem. . ." Drei Wochen später erlag Nicole ihrer Krankheit.

Bis heute weiß niemand genau, wem Peter S. wann welche Dosis zusammenmischte. Ob er vielleicht Kinder-Patienten schonte, ob er eher Frauen oder Männern die Zytostatika kürzte. Der Mann schweigt, auch vor Gericht. Aufgeflogen sind seine Machenschaften im Labor der "Alten Apotheke", weil zwei Mitarbeiter Alarm schlugen. Der Buchhalter Martin Porwoll begann nachzurechnen, was S. kaufte - und was er abrechnete. Für das Medikament Opdivo zum Beispiel fand er in den Büchern Bestellungen über 16 Gramm - aber Honorarforderungen für Arzneien mit 52 Gramm desselben Wirkstoffs. Ein Minus von 36 Gramm. Ähnliche Differenzen ergab die Gegenrechnung bei anderen Therapiemitteln. Am 15. September 2016 zeigte der Buchhalter seinen Chef an.

Apotheker vor Gericht in Essen

Der angeklagte Apotheker soll fast 62000 Krebsmedikamente gepanscht haben.

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Die Verteidiger von Peter S. ließen zuletzt durchblicken, ihr Mandat habe sich mit Zukäufen auf dem Schwarzmarkt eingedeckt. Also billiger, aber nicht weniger Wirkstoff? Gegen diese Version spricht, was Maria Klein, die zweite Kronzeugin der Anklage, aufdeckte. Der pharmazeutisch-technischen Assistentin war seit langem zuwider, wie der Apotheker agierte: Er missachtete Hygiene-Standards, ging in Straßenkleidung und mit seinem geliebten Hund "Grace" ins eigentlich doch keimfreie Reinraum-Labor. Kurz nach Porwolls Strafanzeige half Maria Klein der Zufall: Eine Arztpraxis meldete, eine Patientin sei zu schwach für die Chemotherapie, man möge den Infusionsbeutel wieder abholen. Die Mitarbeiterin trug den Beutel zur Polizei, eine Analyse ergab: "keinerlei Wirkstoff".

Zweieinhalb Wochen später, am Morgen des 29. November 2016, konfiszierte die Polizei bei einer Razzia in einem Labor fertige Infusionsbeutel. 66 davon waren unterdosiert, 27 Beutel hatte Peter S. selbst angemischt. Juristisch hat das zwei Konsequenzen: Vor Gericht steht Peter S. nun auch wegen des 27-fachen Vorwurfs der Körperverletzung. Und die Staatsanwälte suchen seither jene Angestellten, die als Mittäter die übrigen Beutel abfüllten. Identifiziert oder gar angeklagt sind die Helfershelfer bisher nicht.

Der Millionär Peter S. galt in Bottrop als Gönner und Wohltäter

Derweil sterben Menschen. Das Vertrauen der Opfer ist erschüttert, nicht nur gegenüber Ärzten und Apothekern, auch gegenüber der Bottroper Stadt. Peter S. galt als Gönner, der Millionär kaufte Immobilien im Zentrum, vermietete die Häuser an Ärzte. Er galt auch als Wohltäter. Dabei waren bereits 2013 erste Hinweise auf das Treiben bei den Behörden eingegangen. Doch die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen schnell ein.

Inzwischen reagiert auch die Politik. Bisher nämlich sahen sich die über 200 "Schwerpunkt-Apotheken", die bundesweit Anti-Krebs-Arzneien für hunderttausende Patienten mischen, höchst selten unangemeldeten Kontrollen ausgesetzt. Karl-Josef Laumann, der NRW-Gesundheitsminister, will das ändern. Der CDU-Mann will das bundesdeutsche Arzneimittelgesetz verschärfen, um Betrügern schneller auf die Schliche zu kommen.

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