Jurysystem in der US-Justiz:Casting für den Mordprozess

Prozessbeginn für Kinoschützen

Vor zweieinhalb Jahren erschoss James Eagan Holmes (rotes Hemd, bei einer Anhörung im März 2013) zwölf Menschen. Nun beginnt der Prozess gegen ihn.

(Foto: dpa)
  • Das Jurysystem an US-Gerichten ist bei den Bürgern äußerst unbeliebt. Während des Jurydienstes haben sie mit Erwerbsausfall, Isolation und psychischer Belastung zu kämpfen.
  • Zu Beginn des Prozesses gegen den Aurora-Attentäter James Eagan Holmes gibt es 9000 mögliche Juroren. Der Auswahlprozess ist in diesem Fall besonders langwierig und kompliziert.
  • Gegner der Jurypflicht sprechen von einer Versklavung des Bürgers und vergleichen die Arbeit mit der Wehrpflicht.

Von David Hesse, Washington

Am Dienstag begann in Colorado der Prozess gegen James Holmes, den jungen Mann, dessen Bild mit den damals noch orange gefärbten Haaren vor zweieinhalb Jahren in allen Zeitungen war. Holmes stürmte im Juli 2012 schwer bewaffnet eine mitternächtliche Kinovorstellung im Städtchen Aurora, erschoss zwölf Menschen und verletzte 58 weitere. Die Tat löste landesweit Entsetzen aus, es war der schlimmste Amoklauf seit dem Schulmassaker von Columbine.

Es wird ein aufwendiger Prozess, am Anfang steht zunächst die Juryauswahl - sie allein dürfte Monate dauern. Auch ein Massenmörder hat schließlich Anrecht auf ein faires Verfahren, und vom Urteil der zwölf Geschworenen hängt Holmes' Leben ab. Die Verteidigung plädiert auf unschuldig wegen Geistesgestörtheit und möchte eine lebenslange Verwahrung. Die Anklage aber fordert die Todesstrafe.

9000 mögliche Juroren

Rekordverdächtige 9000 Einwohner des Arapahoe County hat das zuständige Bezirksgericht zum Jurydienst einbestellt, jeden 50. erwachsenen Bürger der Region. Im laufenden Prozess gegen den mutmaßlichen Bostoner Bombenleger Dschochar Zarnajew waren es "nur" 1350 Bürger.

Während der vergangenen Wochen wurde da aussortiert: Erst bekamen die möglichen Juroren den Angeklagten am Bundesbezirksgericht von Boston gruppenweise vorgeführt, dann mussten sie einen 28 Seiten umfassenden Fragebogen ausfüllen. Dessen Inhalt bleibt vorerst geheim, doch es geht den Behörden vor allem um den Ausschluss zweier Gruppen: von der Tat Betroffener - und der Gegner der Todesstrafe.

Zarnajew droht ja wie Holmes die Todesstrafe, und jeder Gegner von staatlichen Hinrichtungen in der Jury würde die Forderung der Staatsanwaltschaft aussichtslos machen: Ein Todesurteil kann von der Jury nur einstimmig gefällt werden.

Langwieriger Auswahlprozess

Gerade im Bostoner Prozess ist das nicht einfach, Massachusetts ist ein liberaler Bundesstaat, seit 1947 wurde niemand mehr hingerichtet, die Todesstrafe wurde vor 30 Jahren abgeschafft. Nur weil dies ein Bundesprozess ist, kann der Staat den Tod fordern.

Das Problem ist aber auch: weil die Jury nur aus Hinrichtungsbefürwortern bestehen darf, kann sie nicht repräsentativ sein, wie mehrere Beobachter kritisieren. Die Grundsatzdebatte, inwiefern eine Jury repräsentativ für die Bevölkerung sein soll, ist noch nicht geführt.

Für mehrere Hundert potenzielle Juroren im Fall Zarnajew immerhin ist die Aufregung schon wieder vorbei. Sie haben nach der Auswertung der Fragebögen telefonisch Bescheid erhalten, dass der Staat auf sie verzichtet. Der Rest wird in Einzelgesprächen vor Gericht weiter reduziert, bis zwölf Geschworene plus sechs Ersatzleute übrig sind.

Dabei sind auch Anklage und Verteidigung vertreten, die Parteien reden beim Auswahlverfahren eifrig mit. Jede Seite darf eine bestimmte Zahl Juroren von der Liste streichen, wie in einem Spiel. Das kann sich auf die Fragebögen stützen oder auf subjektive Einschätzung - längst gibt es Berater und Psychologen, die sich auf optimale Juryfrisierung spezialisieren.

Wer eine Vorladung erhält, wird von seinen Freunden bemitleidet

Im Fall Holmes steht den Auserwählten das Prozedere nun bevor. Der Fragebogen umfasst hier 75 Fragen, nahezu täglich kommen nun 250 potenzielle Geschworene ans Gericht. Bis Mai soll sich die Auswahl auf etwa 150 reduzieren.

Wer eine Absage bekommt, dürfte dann wohl in Feierlaune sein: Jurydienst ist eine amerikanische Bürgerpflicht, aber alles andere als beliebt. Wer eine Vorladung erhält, wird von seinen Freunden bemitleidet, Ratgeberseiten im Internet listen "heiße Tipps zur Umgehung der Jurypflicht" auf. Das meiste ist Unfug: Man solle sich als Student einschreiben und Prüfungstermine geltend machen. Oder sich dem Richter als Wirrkopf präsentieren, der unbedingt über andere urteilen wolle.

Der Ideenreichtum zeugt allerdings davon, wie schwierig das Wegkommen wirklich ist. Wer älter als 18 ist, bei geistiger Gesundheit und ohne Vorstrafen, kann von der Justiz aufgeboten werden. Ausgewählt wird aus den Wählerregistern, Studien besagen, dass etwa ein Drittel der US-Bevölkerung einmal im Leben Jurydienst versieht. Und die Strafen fürs Nichterscheinen sind gesalzen.

Erwerbsausfall, Isolation und psychische Belastung

Hauptgrund für den verbreiteten Widerwillen ist nicht so sehr die Angst vor der Verantwortung, sondern die vor dem Erwerbsausfall. Juroren werden meist nur dürftig bezahlt, oft sind es zehn Dollar am Tag. Im Fall Zarnajew sind es immerhin 40, im Fall Holmes gar 50 Dollar, da es sich um Bundesverfahren handelt. Doch je nach Dauer des Prozesses kann auch das materielle Folgen haben.

Zwar dürfen Angestellte in den USA nicht wegen Jurydienstes entlassen werden. Doch viele Firmen stellen ihre Lohnzahlungen nach ein paar Tagen ein. Und wer selbständig ist, hat ohnehin ein Problem. Bei gravierender wirtschaftlicher Not kann man zwar um Befreiung ersuchen, gewisse Unannehmlichkeiten aber soll man schon in Kauf nehmen.

Wie im "Plüsch-Gefängnis"

Ein weiteres Problem ist die Isolation. Gerade bei spektakulären Mordprozessen mit großer öffentlicher Anteilnahme wird die Jury oft abgeschirmt. Sie wohnt im Hotel neben dem Gerichtsgebäude, darf sich im Fernsehen keine Nachrichten anschauen, der Zugang zu Internet und Handy wird eingeschränkt. Von einem "Plüsch-Gefängnis" sprach der Geschworene Martin De La Rosa nach dem Revisionsprozess im Fall Rodney King 1993. Die Jurymitglieder hätten aus Frust und Bewegungsmangel zehn Kilo zugenommen.

Manchen Geschworenen dagegen vergeht der Appetit. Julie Zanartu, die 2004 in Kalifornien im Prozess gegen den Mörder Scott Peterson diente, kann bis heute keine Rippchen mehr essen, weil sie beim Anblick blutigen Fleischs an die scheußlichen Gerichtsfotos denken muss. Gemeinsam mit sechs anderen Juroren hat sie ein Buch über den Prozess und das Leben danach geschrieben, Titel: "Wir, die Jury". Antidepressiva und Suizidgedanken kommen darin ausführlich zur Sprache.

Die Jurypflicht ist eine Versklavung des Bürgers, sagen die Gegner

Das Schreiben ist für viele ein Mittel zur Verarbeitung. Nach dem Urteil erlischt zwar die Jurypflicht, manche aber stürzen in ein Loch: so viel Verantwortung und Druck und dann zurück zur Arbeit. Der Fall O. J. Simpson hat gleich mehrere Jurorenbücher nach sich gezogen.

Manchmal haben solche Bücher sogar politische Sprengkraft: Eine Jurorin etwa wollte über den kontroversen Freispruch des Nachbarschaftswächters George Zimmerman schreiben, bekam dann aber kalte Füße. Und ein Mitglied der Grand Jury in Ferguson klagt derzeit vor Gericht gegen eine Auflage, die Juroren das Sprechen in der Öffentlichkeit verbietet.

Die Mehrheit der Geschworenen allerdings dient in einfacher gelagerten Verhandlungen, manchmal dauert der Einsatz nur wenige Stunden; wenn etwa ein Verkehrsunfall beurteilt wird. Für Politologen wie John Gastil von der Pennsylvania State University ist das Jurysystem so oder so ein wichtiger Bestandteil der amerikanischen Demokratie. Er hat in mehreren Studien dargelegt, dass der Geschworenendienst den Bürgersinn stärke und weiteres Engagement befördere.

Die Gegner der Jurypflicht sehen das natürlich anders. Sie halten die Jurypflicht für nichts weniger als eine Versklavung des Bürgers, eine Einberufung zu unfreiwilliger Arbeit - vergleichbar mit der Wehrpflicht. Und die wurde in den USA 1973 abgeschafft.

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