Jugendvollzug in Deutschland:Was Sanel M. im Gefängnis erwartet

Lesezeit: 4 min

Blick aus einer Zelle in der Justizvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf. (Foto: dpa)

Tuğçe Albayrak ist tot, der 18-jährige Sanel M. muss ins Jugendgefängnis. Ihn erwartet dort Anti-Aggressions-Training und viel Sport. Ein Rückfall soll so verhindert werden. Oft gelingt das nicht.

Von Oliver Klasen, Jana Stegemann und Anna Fischhaber

Drei Jahre Haft auf der einen Seite, ein ausgelöschtes Leben auf der anderen. Der Fall Tuğçe Albayrak ist - zumindest vorläufig - juristisch abgeschlossen. Der Täter, der 18-jährige Sanel M., muss wegen Körperverletzung mit Todesfolge drei Jahre in ein Jugendgefängnis.

Das Jugendstrafrecht in Deutschland sei zu lasch, findet Doğuş, der Bruder von Tuğçe, der am Mittwochabend zu Gast bei Stern TV war. Dem Richter sei nichts vorzuwerfen. Das Gericht habe sich an das Gesetz gehalten. "Aber das ist viel zu wenig für ein Menschenleben."

Urteil im Fall Tuğçe
:Recht sprechen, nicht Rache üben

Der Wunsch nach Vergeltung im Fall Tuğçe ist emotional verständlich. Aber ein Gericht darf sich von solchen Gefühlen nicht beeinflussen lassen. Erst recht nicht, wenn das öffentliche Urteil über den Täter schon feststeht.

Von Joachim Käppner

"Überraschend hart", finden dagegen viele Kommentatoren das Urteil. Schließlich habe Sanel M. nicht mit dem Tod der Studentin rechnen können. "Wir werden in Revision gehen", erklärte denn auch die Verteidigung. Es habe bessere Möglichkeiten für den 18-Jährigen gegeben, "als ihn jetzt im Gefängnis wegzusperren". Aber was bedeuten drei Jahre Jugendgefängnis? Wie verbringen die jugendlichen Straftäter ihre Tage in Haft? Was erwartet sie hinter Gittern? Und was passiert nach ihrer Freilassung?

Wer im Jugendstrafvollzug ist

Nach Angaben des Bundesjustizministeriums sitzen derzeit 4276 Jugendliche in Deutschland im Jugendstrafvollzug (Stand 30.11.2014). Ob jemand nach Jugendstrafrecht verurteilt wird, hängt nicht nur von seinem Alter, sondern - zwischen dem 18. und dem 21. Lebensjahr - vor allem von seinem Reifegrad ab. Eine Entwicklungsverzögerung kann dazu führen, dass ein Erwachsener nach Jugendstrafrecht verurteilt wird. Der Strafrahmen für Jugendstrafen liegt zwischen sechs Monaten und zehn Jahren, wobei die Höchststrafe nur sehr selten angewendet wird. Im Mittelpunkt des Jugendgerichtsgesetzes steht der Gedanke: Erziehung vor Strafe. Jugendrichter haben einen großen Ermessensspielraum, weil sie auf den einzelnen Täter eingehen und erzieherisch tätig werden sollen.

Chronologie im Fall Tuğçe
:Tod vor dem Schnellrestaurant

Fast sieben Monate ist es jetzt her, dass die Studentin Tuğçe Albarak in Offenbach zu Tode kam. Eine Chronologie der Ereignisse in dem Fall.

Im Fall von Sanel M., der schon zweimal mehrere Wochen in Jugendarrest war, hielt der Richter die Jugendstrafe für unumgänglich. Bei dem 18-Jährigen sei keine "günstige Sozialprognose" zu erkennen, stattdessen aber durchaus "schädliche Neigungen". Zudem bestünden bei ihm "erhebliche Erziehungsdefizite". Das Gericht in Darmstadt befürchtet, dass Sanel M. in Freiheit sofort in alte Verhaltensmuster verfallen und durch seine Freunde und das bekannte Umfeld auf dem falschen Weg bleiben würde.

So sieht der Tagesablauf aus

Die ersten sechs bis acht Wochen verbringen jugendliche Straftäter in der Aufnahmeabteilung. "Das ist eine sehr intensive Zeit für den Gefangenen. Ein Psychologe führt mehrere längere Gespräche mit ihm und nimmt eine umfangreiche Anamnese vor: Er untersucht, ob es eine Gewalt- oder Suchtmittelkarriere gibt. Er prüft, über welche schulischen Voraussetzungen der Jugendliche verfügt. Es werden Persönlichkeits-, Intelligenz - und Berufseignungstests gemacht", erklärt Wolfgang Kuhlmann, kommissarischer Leiter der Jugendanstalt Hameln. Mit knapp 750 Plätzen ist Hameln das größte Jugendgefängnis in Deutschland.

Der Tagesablauf der Insassen in den Jugendhaftanstalten der Republik ist überall ähnlich. Wecken gegen sechs Uhr, dann folgen Schule oder Ausbildung. "Die Schüler kehren gegen 13 Uhr zurück, die Auszubildenden um 15:45 Uhr, dann haben sie eine Freistunde. Im Anschluss gibt es Essen", erklärt Rupert Koch, Anstaltsleiter des 2011 eröffneten Jugendgefängnisses in Wuppertal-Ronsdorf.

Fall Tuğçe
:"Der Schlag war der schlimmste Fehler meines Lebens"

Die Staatsanwaltschaft fordert drei Jahre und drei Monate Haft für Sanel M., die Verteidigung verlangt eine Bewährungsstrafe. Zum Ende des Prozesses um den Tod der Studentin Tuğçe Albayrak meldet sich der Angeklagte noch einmal zu Wort.

Von Susanne Höll, Darmstadt

Wuppertal-Ronsdorf hat 510 Plätze, von denen aktuell 80 Prozent mit ausschließlich männlichen Gefangenen belegt sind. Der Großteil der Insassen ist zwischen 18 und 22 Jahre alt, doch es gibt auch minderjährige Gefangene. "Die meisten sind Gewaltstraftäter. Der Anteil derjenigen, die hier wegen Raub, Erpressung und Körperverletzung einsitzen, ist sehr hoch", sagt Koch.

Das sind die Unterschiede zum Erwachsenenvollzug

Das Gesetz sieht vor, dass Heranwachsende in eigenständigen Jugendanstalten und strikt getrennt von Erwachsenen untergebracht werden müssen. Die Gefahr krimineller Ansteckung ist aus Sicht des Gesetzgebers sonst zu groß, sagt Resozialisierungsexperte Bernd Maelicke. "Das Gesetz sieht vor, dass der Jugendvollzug erzieherisch zu gestalten ist. Im Mittelpunkt stehen Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, soziales Lernen und sinnvolle Freizeitgestaltung", sagt Hamelns Anstaltsleiter Kuhlmann.

"Die gesamte soziale Betreuung ist intensiver, der Personalschlüssel deutlich höher", sagt Koch. In Wuppertal kümmern sich 315 Mitarbeiter, darunter 16 Sozialarbeiter, um etwa 400 Insassen. Es gibt ein großes Sport- und Freizeitangebot, Anti-Aggressions-Trainings, Gesprächsgruppen mit Psychologen und Hilfe bei Verschuldung und Behördenkontakt. Zudem werden hier fünf Ausbildungsberufe angeboten, deren Abschlüsse sich von denen, die "draußen" gemacht worden sind, nicht unterscheiden. Außerdem gibt es ein neutrales Abschlusszeugnis.

Wer glaubt, aus dem Jugendgefängnis werden geläuterte Heranwachsende entlassen, irrt allerdings. Trotz der vielen Maßnahmen und Angebote ist die Rückfallquote im Jugendgefängnis extrem hoch - höher sogar noch als im Erwachsenenvollzug. "Nach dem Knast wird knapp die Hälfte der Jugendlichen wieder rückfällig", sagt Resozialisierungsexperte Bernd Maelicke. Und auch Anstaltsleiter Kuhlmann weiß: "Aus der Haft entlassene jugendliche Straftäter werden etwas häufiger wieder rückfällig als erwachsene Straftäter." Allerdings komme es darauf an, wie man Rückfall definiere - also ob die Entlassenen erneut kriminell werden oder ob sie eine derart schwere Straftat begehen, dass sie auch wieder inhaftiert werden. "Grob zusammengefasst kann man sagen, dass etwa ein Drittel derjenigen, die bei uns entlassen werden, später erneut in Haft kommen", sagt Kuhlmann.

Resozialisierung
:"Gefängnis ist keine Lösung"

Die Politik könnte viel mehr tun, um die Gesellschaft vor Wiederholungstätern zu schützen, sagt Jurist Bernd Maelicke. Indem sie weniger Menschen einsperrt.

Von Anna Fischhaber

Warum das so ist? Anstaltsleiter Koch hat dafür eine einfache Erklärung: "Sobald die Gefängnistür nach der Entlassung hinter ihnen ins Schloss fällt, sind die stabilisierenden Faktoren auf einen Schlag weg." Die unzulängliche "nachgehende Betreuung" führt Koch als Hauptursache für die hohe Rückfallquote an. "Die meisten kehren leider in das Milieu zurück, aus dem sie gekommen sind", sagt der Anstaltsleiter.

Resozialisierungsexperte Maelicke plädiert dafür, die Bewährungshilfe massiv auszubauen, um weitere Delikte zu verhindern und potenzielle Opfer zu schützen. Bei vorzeitigen Entlassungen werde den Jugendlichen zwar ein Bewährungshelfer zugeteilt, der müsse sich jedoch zeitgleich um bis zu 80 Klienten kümmern, sagt auch Koch. Die Mitarbeiter des Jugendgefängnisses in Wuppertal versuchen daher, die Insassen so gut wie möglich auf die Zeit nach der Haft vorzubereiten - indem ehrenamtliche Betreuer vermittelt werden oder das Gefängnis den Jugendlichen bei der Suche nach Unterkünften hilft.

"Wichtig sind Rückfallvermeidungs-Strategien. Das bedeutet zum Beispiel, dass einige Gefangene nach ihrer Entlassung kleine Kärtchen bekommen, die sie in die Brieftasche stecken können. Dort stehen dann Telefonnummern drauf, bei denen sie im Krisenfall anrufen und sich Hilfe holen können", sagt Anstaltsleiter Kuhlmann aus Hameln.

SZ PlusProzess im Fall Tuğçe Albayrak
:Ein neues Bild

Der Tod von Tuğçe Albayrak war lange Zeit eine ganz eindeutige Schwarz-Weiß-Geschichte. Inzwischen ist klar: So einfach ist es nicht.

Von Susanne Höll

Für Sanel M. könnte es nach seiner Entlassung doppelt schwierig werden: Nicht nur, weil er in der Vergangenheit immer wieder auffällig geworden ist und - wie andere jugendliche Straftäter auch - rückfallgefährdet ist. Sondern auch, weil ganz Deutschland seinen Fall kennt und er bereits in der Untersuchungshaft Morddrohungen erhalten hat.

(Mit Material der Agenturen)

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: