Jugendgewalt in Großbritannien:Königreich der Furcht

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In Großbritannien nimmt die Jugendgewalt immer krassere Ausmaße an - Politiker und Polizisten sind ratlos. Von einer neuen "Lost Generation" ist die Rede.

Wolfgang Koydl, London

Erwachsene, die Angst haben vor Jugendlichen, Kinder, die sich voreinander fürchten und nur bewaffnet aus dem Hause gehen, Teenager, denen Verstümmelungen drohen oder der Tod, wenn sie eine unsichtbare Grenze in ihrem Wohnviertel überschreiten oder den falschen Fußballklub unterstützen - Großbritannien entwickelt sich mehr und mehr zu einem Königreich der Furcht, dessen Opfer mittlerweile fast schon täglich in den Straßen und Parks seiner Städte verbluten.

Wer sich nicht bewaffnet, riskiert sagen Leben, sagen sich mittlerweile viele Briten. (Foto: Foto: iStockphotos)

Die anscheinend dramatische Zunahme von Messerstechereien hat die Gesellschaft zutiefst verunsichert und drastisch die Hilflosigkeit von Politik und Polizei enthüllt. Zugleich droht die Gefahr der Abstumpfung. Denn das Entsetzen über einen brutalen Mord an einem Jugendlichen hat sich noch nicht gelegt, da wird schon die nächste Gewalttat gemeldet.

Mehr als zehn Fälle von Mord und Gewalt wurden allein am vergangenen Wochenende registriert: In Sidcup wurde der 18-jährige Harry-Potter-Schauspieler Robert Knox erstochen, in Dewsbury der 17-jährige Schüler Amar Aslam erschlagen. Zwei Familienväter starben in Bradford und in Bristol. Einer wurde von einem Mob aus seinem Auto gezerrt und auf offener Straße erstochen, der andere bekam ein Messer in den Leib gerammt, als er einen Streit vor einem Pub schlichten wollte.

"Wie ein Schlachthaus"

Eine andere Kneipe in Bromley wurde von 15 Männern mit Messern und angespitzten Schraubenziehern überfallen. Sie verletzten mehrere Gäste, bevor sie festgenommen wurden. Die Bar sah anschließend nach den Worten eines Augenzeugen aus "wie ein Schlachthaus". Am U-Bahnhof East Ham in London entdeckte die Polizei einen 19-Jährigen mit einer Stichwunde, zwei 17-Jährige im Norden der Hauptstadt erlitten Schussverletzungen. Einer ist mittlerweile gestorben, der andere ringt in einem Krankenhaus mit dem Tod.

Melodramatisch zog der Daily Telegraph bereits Parallelen zur "verlorenen Generation" junger Briten im Ersten Weltkrieg: "Die verlorene Jugend von heute stirbt nicht in den Schützengräben an der Somme, sondern auf Britanniens Straßen. Sie stirbt nicht für ihr Land, sie stirbt noch nicht einmal für ihre iPods. Sie stirbt, weil sie sich im falschen Stadtteil befindet, der falschen Bande angehört oder auf der falschen Seite eines Streits steht."

Regierung und Polizei wehren Kritik mit Statistiken ab. Die weisen in der Tat darauf hin, dass sich die Zahl der "Messerzwischenfälle" zwischen 1995 und 2005 von 340 000 im Jahr auf 169 000 praktisch halbiert hat. Was die Statistik verschweigt: Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren werden nicht erfasst - und Täter und Opfer werden immer jünger. Das "Centre for Crime and Justice" am King's College in London hielt in einer Studie schonungslos fest: "Alle Ausgaben und Aktionen zur Reduzierung der Jugendkriminalität haben keine messbare Auswirkung gehabt."

Unter dem Druck einer zunehmend verunsicherten Öffentlichkeit gelobt die Regierung nun hartes Durchgreifen. "Null Toleranz" verspricht Premierminister Gordon Brown, und Scotland Yards Chef, Sir Ian Blair, kündigt "robuste´" Straßenkontrollen an. Seit kurzem hat die Polizei erstmals wieder das Recht, Jugendliche auch ohne konkrete Verdachtsmomente anzuhalten und nach Waffen abzutasten. Parallel dazu will die Polizei in einer soeben angekündigten Plakatkampagne mit Fotos grässlicher Verletzungen abschreckende Wirkung erzielen.

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Die Ursachen für die zuweilen barbarische Gewalt sind meist banal. Manchmal ist es Langeweile wie offensichtlich im Fall von Amar Aslan, der von seinen Angreifern derart brutal geschlagen wurde, dass man seine Leiche zunächst nicht identifizieren konnte. Die Täter filmten den Mord mit einem Mobiltelefon und sendeten das Video an Freunde. Sieben Personen wurden im Zusammenhang mit dem Mord festgenommen - darunter zwei zwölf und 13 Jahre alte Jungen.

Sie dürften einer der Banden angehören, die Dewsbury unter sich aufgeteilt haben. Solche Banden sind die Geißeln jeder britischen Stadt. Manchmal kämpfen sie um Absatzmärkte für Drogen oder um Mädchen, manchmal rotten sie sich hinter rivalisierenden Fußballklubs zusammen, manchmal hat die Feindschaft - wie in Schottland - religiösen Hass zwischen Katholiken und Protestanten zum Anlass.

Meistens freilich verteidigen diese Banden lediglich ihr selbstbestimmtes Revier: Sogenannte Post Code Gangs operieren innerhalb bestimmter Postleitzahlenbezirke und verfolgen gnadenlos jeden Jugendlichen, der sich in dieses Revier verirrt. Was keine Statistik beschönigen kann, ist die Furcht vieler erwachsener Briten, die beim Anblick von Jugendlichen in Kapuzenjacken instinktiv die Straßenseite wechseln. Aber dies ist nur eine Seite der Realität. Experten betonen, dass Kinder und Jugendliche Angst voreinander haben - und sich deshalb mit Messern und zunehmend auch mit Schusswaffen aufrüsten.

"Eine große böse Welt"

Der Kriminologe David Wilson von der Birmingham City University vertritt die Meinung, dass sich Teenager zu schützen versuchen. "Sie reagieren auf eine Welt, in der die ältere Generation Jugendliche generell als Ruhestörer dämonisiert und in der Jugendliche Erwachsenen nicht mehr zutrauen, sie zu beschützen", erklärte er. Hartes Durchgreifen der Polizei bringe nichts. "Wir brauchen langfristige Lösungen: Wie gehen wir mit einer Generation um, die Erwachsenen nicht traut?" Gespräche mit Jugendlichen, die der Guardian unlängst führte, bestätigten die These des Akademikers.

"Da draußen ist eine große, böse Welt", sagte der 17-jährige Duwayne. "Ich sehe nicht ein, was falsch daran sein sollte, ein Messer zu haben. Es gibt mir Macht und Schutz." Shabs, der das Haus nie ohne ein Springmesser mit Zwölf-Zentimeter-Klinge verlässt, stimmt zu: "Da draußen passieren viele fürchterliche Dinge, je mehr du hörst, desto mehr musst du dich schützen."

Seal aus London pflichtet bei: "Der Grund, warum die meisten Kerle ein Messer oder eine Knarre tragen, ist Angst." Die vielleicht niederschmetterndste Erkenntnis stammt von der Sozialarbeiterin Camila Batmanghelidjh: "Es gibt Kinder, die von Geburt an so brutalisiert sind, dass sie mit Messern unter dem Kissen schlafen. Ihnen ist es egal, ob sie leben oder sterben."

© SZ vom 30.5.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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