Jessica, sieben Jahre:Ein Kind verhungert - mitten in Deutschland

Es schien, als habe es das Mädchen Jessica nie gegeben. Nach dem schrecklichen Tod fragen sich alle: Warum haben weder Nachbarn noch Ämter die Tragödie bemerkt?

Von Ralf Wiegand

Das Haus mit der Adresse Brieger Weg Nummer 2 in Hamburg-Jenfeld entspricht allen Klischees des anonymen Großstadt-Bunkers. Waschbeton-Platten und dunkelblaue Mosaik-Fliesen vermengen sich zu einer trostlosen Hochhausfassade.

Kerzen für die verhungerte Jessica, AP

Ein junges Mädchen stellt eine Kerze für Jessica auf.

(Foto: Foto: AP)

Hinter ihr ist ein Kind einen schrecklichen Tod gestorben, von dem niemand etwas bemerkte.

So viele Namen stehen unten am gläsernen Windfang in Dreierreihen auf der Klingelanlage, aber keiner der Nachbarn der Familie Sch. aus dem siebten Stock ahnte etwas. Zumindest keiner, der sich vor der Presse äußert.

Als zwei Männer am Dienstagmorgen den von schwarzem Samt bedeckten Sarg aus dem Eingang tragen, sieht man nur leere Gesichter an den Fenstern. Diejenigen, die reden wollen, sagen, sie hätten nicht einmal gewusst, dass ein Kind zu dieser Wohnung gehörte.

Das Kind, das es nie gegeben zu haben schien, hieß Jessica. Mit sieben Jahren ist Jessica verhungert und verdurstet. Ihr toter Körper wog nicht einmal zehn Kilo.

Haben die Behörden versagt?

Der unfassbare Fall beherrschte am Mittwoch die Titelseiten der Hamburger Zeitungen und war Aufmacher der Stadtmagazine im Fernsehen und Radio. Die Fragen sind immer die gleichen: Warum hat niemand etwas gemerkt? Haben die Behörden versagt?

"Ich habe gelernt", antwortet Rüdiger Bagger von der Hamburger Staatsanwaltschaft, "dass sich um die Ernährung eines Kindes die Eltern kümmern müssen, nicht irgendwelche Behörden." Ein deutscher Reflex sei das, immer sofort nach der Schuld von Beamten zu suchen.

Am Dienstag wurden die Eltern Marlies Sch., 35, und Burkhard M., 49, festgenommen. Am Mittwochnachmittag erging dann der Haftbefehl gegen die beiden wegen "gemeinschaftlichen Totschlags durch Unterlassen".

Ein Kind verhungert - mitten in Deutschland

Was über den Tod von Jessica bekannt ist, hat die Vorstellungskraft von Ermittlern und Anklägern ohnehin längst überfordert. Polizisten, die das Kind sahen, fühlten sich an Bilder aus Hungerländern erinnert. Nur Haut und Knochen, der Bauch aufgebläht.

Die Siebenjährige wog so wenig wie ein zwei Jahre altes Baby. Die Wohnung, zwei Zimmer, 71 Quadratmeter - verwahrlost.

Einer Katze ging es gut, die Beamten beschrieben sie als wohlgenährt. Die Mutter und ihr Lebensgefährte haben das Kind verhungern lassen, nichts anderes lässt sich aus den Fakten schließen.

Anonymität und Desinteresse unter den Menschen

Es gab schon am Dienstag eine Eilsektion im Institut für Rechtsmedizin. Danach ist das Mädchen an Erbrochenem erstickt, nachdem es durch Mangelernährung zu einem Darmverschluss gekommen war.

Jessica, so berichteten es die Eltern der Polizei, habe sich in der Nacht zum Dienstag übergeben. Sie sei dann ins Bett der Eltern gekrochen, dort habe sie das Bewusstsein verloren. Um Viertel vor sieben am Morgen wählte Marlies Sch. die Notrufnummer. Jessica war schon tot, als der Arzt eintraf.

Der Hamburger Hauptpastor Helge Adolphsen beklagt nun, "wie groß Anonymität und Desinteresse unter den Menschen sind". Das ist immer so, wenn hinter einer Wohnungstür Grauenhaftes geschehen ist, ohne dass jemand etwas bemerkte.

Auch die Behörden nicht. Jessica hätte seit vergangenen Sommer die Schule besuchen müssen, sie war nie dort. Bußgeld bezahlten die Eltern nicht, Mitarbeitern des Schulamts öffneten sie nicht die Tür. Bei drei Hausbesuchen sei niemand angetroffen worden, hieß es. Die Polizei vermutet, dass das Mädchen von seinen Eltern in der Wohnung wie eine Gefangene gehalten wurde.

Umgehend folgt die Instrumentalisierung

Das Jugendamt behauptet, nichts von Jessica gewusst zu haben. Das widerspricht der Aussage des geschiedenen Mannes von Marlies Sch., Rolf Sch. Der verbreitete sich in Bild und Morgenpost über seine Ex-Frau, mit der er zwei Kinder hat, die bei ihm leben.

Ein weiteres Kind von einem anderen Mann habe Marlies Sch. zur Adoption freigegeben, um ihre Kinder habe sie sich nie gekümmert. Rolf Sch. behauptet, das Jugendamt informiert zu haben.

So erschütternd der Fall ist, so spektakulär ist er auch - zu spektakulär, als dass sich Politiker zurückhalten könnten, Jessicas Tod umgehend zu instrumentalisieren.

Die Opposition im Hamburger Rathaus ruft bereits nach Konsequenzen. "Der Kinderschutz hat versagt", steht für die Grüne Christa Goetsch schon fest, weswegen "Schul- und Sozialbehörden" die "vielen Fragen aufklären und öffentlich darstellen" müssten. Sie fordert eine Ausschusssitzung.

Und die SPD-Bildungspolitikerin Britta Ernst verlangte bereits, nichts dürfe "vertuscht" werden, ehe die Staatsanwaltschaft überhaupt überlegt hatte, wie sie gegenüber dem Haftrichter argumentieren würde.

Solcher Aktionismus ist auch ein Ausdruck des schlechten Gewissens einer Gesellschaft: Ein Kind ist verhungert, mitten in der Großstadt.

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