Jessica-Prozess:Spuren eines unsichtbaren Lebens

Es gibt Fragen, die keiner zu Ende denken mag: Kaum je zuvor hatte ein Gericht solche Mühe, das Unvorstellbare einer Tat zu verstehen.

Christiane Langrock-Kögel

Meistens sitzt die ältere Dame auf einer der Holzbänke im hinteren Teil des Saals. Sie trägt ein geblümtes Kostüm, neben ihr sitzt ein Mann mit kariertem Hemd, die beiden haben sich am ersten Prozesstag kennen gelernt. Sie haben kleine Wasserflaschen dabei.

Jessicas Grab, AP

Nach dem Tod erfährt Jessica die Anteilnahme, welche ihr im Leben verwehrt geblieben war.

(Foto: Foto: AP)

Eine Plexiglasscheibe trennt sie und die anderen Zuhörer von dem geschnitzten Holzgestühl, in dem Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagte ihre Plätze einnehmen. Es riecht nach altem Holz und Staub, während über den Hungertod der siebenjährigen Jessica aus Hamburg-Jenfeld verhandelt wird.

Die ältere Dame ist fast jeden Tag da, sie hört all die grausamen Details. Warum? "Ich möchte wissen", sagt sie, "warum so etwas wie mit Jessica passieren kann." Seit August stehen Jessicas Eltern, die 36-jährige Marlies Sch. und Burkhard M., 50, vor dem Hamburger Landgericht.

Zwischen Wut und Tränen

Im März war ihre Tochter tot aufgefunden worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Misshandlung einer Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassen vor (Mordmerkmal: besondere Grausamkeit).

Er wolle nicht um Verständnis für etwas werben, für das es kein Verständnis geben könne, hat der Anwalt von Marlies Sch., der vierfache Vater Manfred Getzmann, zu Beginn gesagt. "Ich will nur versuchen zu verstehen. Um anderen Kindern vielleicht rechtzeitig helfen zu können."

In Hamburger Boulevardblättern wird Marlies Sch. "die Horror-Mutter" genannt. Im Gerichtssaal fallen Einordnungen schwerer. An den bislang elf Verhandlungstagen haben die Angeklagte, Experten und Zeugen ausgesagt, darunter Marlies Sch.s Tante, ihr Ex-Mann und Jessicas Patenonkel.

Vieles, was zu hören war, verfestigte das Bild der katastrophalen Kindheit von Jessicas Mutter. Zwischen Wut und Tränen erzählt sie von der Lieblosigkeit ihrer eigenen Mutter, erzählt von Vernachlässigung, Demütigung, sogar Missbrauch. Als sie 13 war, zog Marlies Sch. von zu Hause aus. Sie hat ihre Mutter nie wieder gesehen.

Der Berliner Psychiatrie-Professor Hans-Ludwig Kröber hat die Angeklagte fünf Mal in der Untersuchungshaft besucht. Er beschreibt Marlies Sch. als konzentriert und kooperativ. Ihr Intelligenzquotient liegt im oberen Bereich des Durchschnitts.

Rätselraten über die Ursachen

Wenn sie von Burkhard M. spreche, strahle Frau Sch., sagt Kröber. M. sei ihr "persönliches kleines Glück", der einzige Mensch, über den sie gut rede. Der Charité-Forensiker konnte keine krankhaften Veränderungen in Marlies Sch.s Emotionalität feststellen, keine seelische Abartigkeit, keine hirnorganische Störung.

Sie sei unter "miserablen Bedingungen aufgewachsen" - aber sie habe es verstanden, "auf der Spur" zu bleiben. "Es ist ein gewisses Rätsel, was Marlies Sch. dahin gebracht hat, wo sie jetzt steht." "Der Prozess versetzt sie in Angst", sagt ihr Anwalt.

Sie betritt den Gerichtssaal gesenkten Kopfes - und verlässt ihn auch so wieder. Marlies Sch. sitzt an einem kleinen Tisch schräg vor dem Richterpult, da hat sie die Zuschauer im Rücken. Niemand außer dem Richter und dem Staatsanwalt kann ihr ins Gesicht sehen.

Kindheit unter der Bettdecke

Nie wechselt sie einen Blick mit Burkhard M. Mit ihrer durchscheinend blassen Hand zupft sie ständig an ihrem Ohr, um das Gesicht abzuschirmen. Sobald ein Zeuge schräg vor ihr sitzt oder ein Sachverständiger aussagt, dreht sie den Kopf möglichst weit in die andere Richtung.

Eine angeheiratete Tante, die 1975 für zwei Wochen in der Ein-Zimmer-Wohnung schlief, in der Marlies Sch. mit ihrer Mutter und deren wechselnden Männern lebte, schildert vor Gericht gewalttätige Szenen. Die damals sechsjährige Marlies habe stundenlang unter ihrer Bettdecke liegen müssen.

Essen habe es nicht gegeben, nur Kaffee, Alkohol und Zigaretten. Marlies' Mutter war damals mit ihrem eigenen Onkel zusammen - er soll Marlies' Kopf auf den Boden geschlagen haben, als sie einmal unter ihrer Decke hervorlugte. Während er mit ihrer Mutter Sex hatte, erinnert sich Marlies Sch., habe der Großonkel ihr zugerufen: "Du bist als Nächste dran!"

Zwischen den Beinen und an der Brust sei sie von ihm angefasst worden. Ihre ganze Kindheit sei "sicher herzhaft unangenehm" verlaufen, sagt Psychiatrie-Professor Kröber und sorgt mit seinen unangemessenen Äußerungen nicht nur an dieser Stelle für Irritation. An die Theorie eines "großen Traumas" glaube er nicht.

Spuren eines unsichtbaren Lebens

Handlungsunfähig durch Hinschwund?

Die Eltern der verhungerten Jessica, DDP

Der Vater schweigt, die Mutter bleibt vage.

(Foto: Foto: DDP)

Jessicas Vater schweigt vor Gericht. Wegen seiner "in sich gekehrten Persönlichkeitsstruktur" sei Burkhard M. nicht in der Lage auszusagen, verliest seine Anwältin. In Jeans und T-Shirt, das dünne graue Haar im Nacken zusammengebunden, blickt er stets teilnahmslos geradeaus.

Sein Gutachter, der Duisburger Professor für Forensische Psychiatrie Norbert Leygraf, hat M. zwar ebenfalls einen IQ im oberen Bereich des Durchschnitts bescheinigt, aber auch langjährigen Alkoholmissbrauch, eine Volumenminderung im Bereich des Stirnhirns und eine damit einhergehende "erschreckende Gleichgültigkeit".

Scheißegal sei M. alles gewesen, und um sich in dieser Stimmung zu halten, habe er gesoffen. Sein Hirnschwund beeinträchtige M.s Steuerungsfähigkeit, sagt Leygraf. Jessica sei die Sache von Frau Sch., habe der arbeitslose Lackierer beschlossen.

Seit 2001 habe er den Kontakt zu seiner Tochter "verloren" - das Mädchen habe sich in einer Phase elterlichen Streits "von ihm abgewandt". In ihren letzten sechs Lebensmonaten hat Burkhard M. Jessica "nie mehr im Ganzen", sondern nur noch "zufällig durch einen Türspalt" gesehen, wenn er ins Bad ging.

"Es gibt kein Recht darauf, jedes Wort zu verstehen!"

Er sei davon ausgegangen, dass Frau Sch. "alles ordnungsgemäß regele". Es klingt, als hätte M. seine Tochter einfach ausgeblendet. Norbert Leygraf glaubt, dass Jessica ihrem Vater emotional nie etwas bedeutete.

M.s Schweigen und Teilnahmslosigkeit sind alles, was er in diesem Verfahren an Erklärungen beiträgt. Er wirkt wie eine Randfigur, alles scheint sich auf Marlies Sch. zu konzentrieren. Sie hat versucht, auf die Fragen des Richters zu antworten.

Oft hat sie nur ein "Weiß nicht" oder ein "Kann ich nicht sagen" herausgebracht. Der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg, ein 60-jähriger Jurist mit großer Erfahrung, begegnet der Angeklagten mit Geduld. Wenn ihr die Stimme versagt und ihre gehauchten Antworten trotz Mikrofons kaum zu verstehen sind, lässt Schaberg ihr ein Glas Wasser bringen und bittet: "Nun versuchen Sie es nochmal, Frau Sch."

Schaberg hat die Angeklagte auch scharf gegen "Lauter!"-Rufe aus dem Zuschauerraum verteidigt: "Es gibt kein Recht darauf, jedes Wort zu verstehen!" Marlies Sch. hat vier Kinder von drei Männern bekommen.

Aus Sicht der Mutter alles "ganz normal"

André, das erste, gab sie auf Druck ihrer Tante nach neun Monaten zur Adoption frei - der Kleine habe den ganzen Tag im Dunkeln gelegen und sei nicht versorgt worden, sagt die Tante aus.

Zweimal wurde Marlies Sch. von ihrem heute geschiedenen Mann schwanger, brachte einen Jungen und ein Mädchen zur Welt. Die Ehe sei gescheitert wegen ihrer Unfähigkeit, mit Kindern umzugehen, sagt ihr Ex-Mann, bei dem die beiden leben.

Marlies Sch. hatte nie wieder Kontakt zu einem ihrer Kinder. Aber vor Gericht zugeben, dass sie nicht mit ihnen klar kam, kann sie nicht. Der Gutachter sagt, dass Menschen, die unter schlechten Bedingungen aufwachsen, gute Anpasser sind. In der Schule zum Beispiel. Marlies Sch. kam ganz gut mit. Sie wollte normal sein.

Sie verwendet oft den Begriff "normal". Jessica sei kein Wunschkind gewesen; sie habe versucht, das Baby selbst abzutreiben. Doch als es da gewesen sei, habe sie sich "ganz normal um das Kind gekümmert", sagt Marlies Sch.

In den ersten Jahren habe sich Jessica "normal entwickelt". Ja, sie habe gehen und sprechen können. Habe Spielzeug in ihrem Zimmer gehabt. Marlies Sch. beharrt darauf, dem Kind bis zuletzt dreimal am Tag Essen und Trinken angeboten zu haben - Jessica aber habe Nahrung und Flüssigkeit verweigert.

Um fünf Uhr morgens will Marlies Sch. aufgestanden sein, um zwölf habe man gegessen, um sechs am Abend sei Jessica eingeschlafen. Doch nichts war normal, und das merkt man ganz besonders, als Jessicas Patenonkel aussagt. Er hatte sich nicht gewundert, dass er immer wieder längere Zeit in einer Wohnung mit Marlies, Burkhard und deren Baby lebte und das Kind kaum je sah.

Spuren eines unsichtbaren Lebens

Beerdigung Jessica, DPA

Gleich hinter dem Sarg der kleinen Jessica läuft Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust - die Eltern waren der Beerdigung ferngeblieben.

(Foto: Foto: DPA)

Das Kind, das es nie gab

Nie habe er beobachtet, wie Jessica gewickelt wurde oder dass jemand mit ihr spielte. Sie blieb in ihrem Zimmer, in dem Marlies Sch. ab und zu verschwand. Er habe angenommen, dass sie Jessica dann versorge, sagt H., ein gelernter Tischler.

Ein paar Mal passte er sogar auf das Mädchen auf, als die Familie in eine eigene Wohnung nach Jenfeld umgezogen war. Jessica schlafe schon, sagten ihm die Eltern dann; er solle nur zu ihr reingehen, wenn sie weine. Und weil sie nie geweint habe, sagt H., ging er nie rein.

Er bewachte ein Kind, das ebenso gut hätte tot sein können, damals schon. Wenn sie zu Hause waren, trennte Jessicas Eltern nur eine Wand von ihrer Tochter: Das Kinderzimmer lag zwischen Wohnzimmer und Elternschlafzimmer.

Die Polizei hat auf einem Video vom Tatort jedes Zimmer abgefilmt: die Küche mit den Gewürzen im Hängeschrank und den Töpfen auf dem Herd; das Bett im Elternschlafzimmer mit den bunten Bezügen. Das aufgeklappte Bügelbrett. Im Wohnzimmer: Sessel, Couch und Computer.

Pathologe sucht im Warschauer Ghetto nach Vergleichsfällen

Mitten in diesem sichtbaren Leben musste Jessica ihr unsichtbares Leben führen. Das Video zeigt ihr Zimmer: Jessica hat Teppichstücke vom Boden abgerissen, um sie zu essen. Sie hat an den Wänden gekratzt. Die Fensterflügel sind verschraubt und nicht zu öffnen, das Glas ist mit schwarzer Plastikfolie zugeklebt.

Auf dem Hochbett aus hellem Holz liegt eine schmutzige Matratze, aus der die blanken Metallfedern ragen. Die Heizung ist mit einem Kabelbinder auf Stufe eins fixiert. Aus dem abgerissenen Lichtschalter ragt ein stromführender Draht - der Staatsanwalt wirft den Eltern vor, dass sie Jessica auf diese Weise umbringen wollten.

Bei der Vorführung des Videos kehrt Marlies Sch. dem Fernseher den Rücken zu. Burkhard M. schaut hin, er betrachtet sein Bett, die Couch, das Verlies seiner Tochter. Er wird nie mehr dorthin zurückkehren. In seinem Gesicht regt sich nichts.

Der Hamburger Pathologe, der den auf neuneinhalb Kilo abgemagerten Körper Jessicas obduzierte, musste in der Literatur bis zum Warschauer Ghetto zurückgehen, um Vergleichsdaten zu finden. Er ist sich sicher, dass das Mädchen in seinen letzten Lebensmonaten nicht mehr gehen konnte- seine Glasknochen wären sofort gebrochen.

Im ewigen Dunkel

Der Arzt hat beschrieben, wie Jessica aufgrund eines Darmverschlusses an den erbrochenen Resten ihrer letzten Mahlzeit erstickte. Sie hatte kaum noch Haare, weil sie sich die ausgerissen und gegessen hatte. Psychisch war Jessica durch die jahrelange Isolation wahrscheinlich schwerstbehindert.

Bis zuletzt war sie bei vollem Bewusstsein und muss in den Tagen vor ihrem Tod starke Schmerzen gespürt haben. "Zicke", wie die Eltern sie nannten, habe in der letzten Nacht ihres Lebens "gemeckert", sagt die Mutter.

Im Gerichtssaal rücken die juristischen Begriffe das Furchtbare, über das verhandelt wird, ein Stück weit weg. Die Atmosphäre ist sachlich. Dass Eltern ihr Kind verhungern lassen, während sie nebenan essen, trinken und leben, ist unvorstellbar.

Es gibt in diesem Prozess Fragen, die keiner zu Ende denken möchte: Was machte und was dachte dieses Kind an all den Tagen allein im Dunkeln? Da ist dieses Foto vom Tatort. Als der Notarzt kam, lag Jessica mit angezogenen Beinen auf dem Bett ihrer Eltern.

Mit steigender Mobilität beginnt Jessicas Leidenszeit

Das Elternbett ist für die meisten Kinder ein Ort, an dem sie Trost und Schutz suchen und oft auch finden. Jessica haben ihre Eltern erst dorthin getragen, als sie tot war. Und nicht, ohne vorher ein Handtuch aufs Laken gelegt zu haben.

Sie habe in ihren letzten Wochen nicht mehr gesprochen, sagt ihre Mutter, "nur Mama". Man könne Kinder noch so schwer misshandeln, erklärt die Leiterin der Berliner Polizei-Sondereinheit für vernachlässigte Kinder, und sie stünden dennoch loyal wie kleine Soldaten hinter ihren Eltern.

Weil sie nichts anderes kennen. Und weil es nichts Schmerzhafteres gibt, als in den eigenen Eltern den größten Feind zu erkennen. Der Gutachter Hans-Ludwig Kröber hat flapsig erklärt, dass Kinder manchmal keine "reine Annehmlichkeit" seien. Dass man eine gewisse Liebesfähigkeit, Gelassenheit und Zuversicht brauche, um mit ihnen zurecht zu kommen.

Kröber glaubt, dass Marlies Sch. sich einerseits dafür geschämt habe, dass man ihr die Kinder wegnehmen musste. Andererseits habe sie ihre Söhne und Töchter als persönliche Feinde empfunden, die ihre Freiheit einschränkten: "Je mobiler Jessica wurde, desto mehr Vorkehrungen traf sie, um sie pflegeleichter zu machen."

"Meine Tochter ist eine furchtbare Rabenmutter"

Sie sollte im ewigen Dunkel vor sich hindämmern. Marlies Sch., sagt Kröber, habe klar erkannt, dass Jessica von einem bestimmten Zeitpunkt an "nicht mehr vorzeigbar" gewesen sei. Deshalb rief sie auch keine Hilfe.

Die Bild-Zeitung druckte ein Interview mit Marlies Sch.s erstem Sohn, André. "Sperrt meine Mutter für immer weg", sagt der 15-Jährige in dem Gespräch. "Ich empfinde für meine Mutter heute nur Hass." Marlies Sch.s Mutter, Ingrid H., hat vor Gericht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht.

Vor den Fernsehkameras redete sie. "Meine Tochter ist eine furchtbare Rabenmutter, so etwas kennen wir in unserer Familie nicht." Sie sei immer für Marlies da gewesen, aber nun empfinde sie nur Hass. Lebenslang sei nicht genug. Zwangssterilisieren müsse man ihre Tochter.

Ingrid H. hat keine Fotos mehr von Marlies, die sie seit 23 Jahren nicht mehr gesehen hat. Die letzten beiden Aufnahmen, die sie noch besaß, hat sie dem Team von Spiegel TV mitgegeben.

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