Japan: Nach dem Erdbeben:Verloren in Schlamm und Schutt

Jenseits der Furcht vor dem Super-GAU: Nach dem Erdbeben und dem Tsunami ist Japans Nordküste eine Landkarte des Grauens. In den völlig zerstörten Städten und Dörfern warten Menschen auf Hilfe. Tausende werden vermisst.

Christoph Neidhart, Tokio

Nachdem im Hafenstädtchen Minamisanriku die Erde gebebt, ja getobt hatte und die Stöße langsam nachließen, rappelten sich die Einwohner auf und rannten ins Freie. Die, die unversehrt geblieben waren, wähnten sich für ein paar Minuten in Sicherheit. Fühlten sich vielleicht für einen kurzen, glücklichen Moment erschöpft und erleichtert. Was für ein Irrtum. Denn das Schlimmste, das große Wasser, das die Stadt hinwegfegen sollte, stand ihnen noch bevor.

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Mit dem Nötigsten versorgt: Einwohner der Stadt Tagajo müssen über Autowracks klettern, um die zerstörten Geschäfte zu erreichen.

(Foto: AFP)

Das Fischerstädtchen liegt an einem der schönsten, friedlichsten Küstenstreifen Japans, unweit der berühmten Matsushima-Bucht mit ihren vielen Inselchen, auf denen Kiefern wachsen. Japans Häfen schützen sich, hier wie anderswo, mit Betonsperren gegen Springfluten und Tsunamis, in manchen Häfen sind diese Mauern bis zu zehn Meter hoch.

Doch das sollte nichts helfen. Kurz nach dem Beben wurde in Minamisanriku, wie überall an der Küste, sofort der Tsunami-Alarm ausgelöst. Die Warnung wurde über alle Rundfunk- und TV-Programme, über Lautsprecher-Anlagen und auf alle Mobiltelefone gesendet. Am Hafen und im Ort von Minamisanriku gab es Wegweiser, denen man auf der Flucht vor einem drohenden Tsunami folgen soll.

Doch die Warnung half wenig. Die Bewohner hatten nur einige Minuten Zeit, um zu fliehen. Dann rollte eine zehn Meter hohe Welle an. Sie riss Fischerboote wie Spielzeug mit, schwappte über die hohe Tsunami-Sperre und über den ganzen Ort. Das Meer zermalmte Autos und Häuser. Als es sich langsam zurückzog, standen nur noch einige Bauten, wo Minuten zuvor ein 19.000-Seelen-Städtchen gewesen war.

Minamisanriku gibt es nicht mehr. Am Samstagabend erreichte eine Einheit der japanischen Armee den Ort. 7500 Menschen hatten sich retten können, auf 25 verschiedene Zufluchtsorte verteilt, Tausende gelten noch als vermisst. Die Chance, dass sie lebend geborgen werden, ist gering. Die Behörden der Präfektur Miyagi warnen, dass die Zahl der Toten allein in ihrer Präfektur 10.000 Menschen weit übersteigen dürfte.

Erste Bilder aus Minamisanriku zeigen, dass das Wasser die Häuser förmlich zerfetzt hat. Nur von den Blechdächern sind größere Stücke geblieben. Wer von dieser Wucht erfasst worden ist, dessen Körper ist mutmaßlich unter den Trümmern und im Schlamm nicht mehr zu finden. Dennoch machten sich viele Verzweifelte auf die Suche nach ihren Kindern, ihren Eltern und andern Angehörigen. Sie mochten nicht glauben, was sie sahen.

Landkarte des Grauens

Die Küste entlang erstreckt sich eine Landkarte des Grauens. Mehr als drei Minuten schüttelte die Erde auch die Stadt Sendai. Im Haus des 20-jährigen Yuji sprangen die Bilder von den Wänden, die Bücher fielen aus den Regalen, Möbel stürzten um. Yuji floh mit seiner Mutter aus dem Haus, draußen fielen beide hin, kauerten vor ihrem Auto. Der Boden schwankte so sehr, dass man nicht mehr stehen konnte. Im Garten lag noch etwas Schnee. Irgendwann, scheinbar nach einer Ewigkeit, ließ das Rütteln nach. Sie hatten es überstanden. Eine Nachbarin trat verzweifelt aus ihrem Haus, ihr Kind auf dem Rücken. "Seid ihr noch heil?", rief sie.

Yuji hatte die Geistesgegenwart, während des Erdbebens vom Freitag eine kleine Filmkamera laufen zu lassen. Auf Youtube kann man nun, auch dank seiner Bilder, zumindest ahnen, wie grauenhaft das Erdbeben vom Freitag war, dessen Stärke mit einer Stärke von 8,9 auf der Richterskala den Nordosten Japans verwüstete. Es ist damit das stärkste Erdbeben, das in diesem erdbebenerprobten Land je gemessen wurde. Und es ist Japans größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Der Tsunami hat die japanische Ostküste auf einem 500 Kilometer langen Streifen überschwemmt, teilweise bis zu zehn Kilometer ins Inland hinein. Kaum hatte sich das Wasser zurückgezogen, fingen viele zerstörte Gebäude Feuer. Zahlreiche der Überlebenden fanden sich vom Wasser eingeschlossen. Sie mussten eine bitterkalte Nacht ohne Strom und Heizung, oft auch ohne Nahrung überstehen. Und immer wieder hob sich die Erde in schweren Nachbeben.

Erst am Samstag begann die Armee, versprengte Opfer in der Wüstenei an der Küste mit Hubschraubern auszufliegen. Doch auch am Sonntag warteten noch viele auf Dächern und trockenen Plätzen auf Hilfe; manche waren schwer verletzt. Andere wateten ziellos durch den Schlamm, hin und her, hin und her, um weniger zu frieren. Kein einziges der vielen kleinen Fischerstädtchen entlang der Sanriku-Küste blieb verschont.

Die Rettungskräfte meldeten am Samstag und Sonntag regelmäßig neue Leichenzahlen aus Orten, die zuvor nicht erreicht worden waren. Etwas südlich, unweit der Millionenstadt Sendai, hat ein Kamera-Team des Staatssenders NHK aus einem Hubschrauber den Tsunami live in Japans Wohnzimmer und Büros übertragen. Er überrollte ein Dorf, nahm Häuser mit wie Schwemmholz, schleppte sie über Hunderte von Metern, trug sie quer über Gemüse- und Reisfelder. Was dem Wasser im Weg war, wurde zerquetscht.

In Kamaishi, etwa fünfzig Kilometer nördlich von Minamisanriku, filmte jemand, wie der Tsumani Boote übers Ufer spülte, sie drehte und wendete, als wögen sie nichts, Autos in die Brühe mischte. Kurz darauf kam sogar eine Brücke dazu. Auch diese Stadt ist völlig zerstört.

Krankenhaus ruft um Hilfe

Eine Augenzeugin aus Kamaishi sagte im japanischen Fernsehen, ihr sei es vorgekommen, als steige das Meer in die Luft. Der Stahlkonzern Nippon Steel, der in Kamaishi eine große Anlage betreibt, die die japanische Autoindustrie beliefert, meldete am Sonntag, die Anlage sei vom Tsunami zerstört worden. Das Werk bleibe auf unbestimmte Zeit geschlossen.

Ishinomaki ist das örtliche Fischerei-Zentrum an dieser Küste. Hier riss der Tsunami einen Regionalzug mit. Ein Überlebender berichtete, nachdem sich das Wasser zurückgezogen hatte, habe er einen umgestürzten LKW gesehen, am Steuer habe der tote Fahrer gesessen. Dann sei ein Mann auf ihn zugekommen, völlig mit Schlamm bedeckt, "wie in einem Horrorfilm". Er selbst habe sich in eine höher gelegene Schule geflüchtet, doch dann habe der Tsunami auch diese Schule überflutet. Er habe sich nur retten können, weil er sich an ein großes Stück Schwemmholz habe klammern können.

Die nächste Welle schmetterte das Holzstück dann an einen Hang, dort blieb er liegen. Viele der Straßen in Ishinomaki sind noch immer überschwemmt; Soldaten holen Gestrandete mit kleinen Ruderbooten aus den Trümmern. Das Krankenhaus von Ishinomaki ruft um Hilfe, seine Vorräte gehen zur Neige.

Die oppositionelle liberaldemokratische Partei kritisierte unterdessen die Regierung von Naoto Kan: Sie habe zu langsam reagiert und zu Beginn zu wenig Militär mobilisiert. Inzwischen hat Kan weitere Truppenteile in Marsch gesetzt. Kritisiert wird die Regierung auch, weil sie zu wenig über das Unglück und die Lage informiere. Aber wer hat einen Überblick in diesem Chaos?

Außer internationalen Rettungstrupps sind inzwischen auch in Japan stationierte US-Truppen im Rettungs-, Bergungs- und Versorgungseinsatz. Sie sollen zum Beispiel das unzugängliche Krankenaus in Ishinomaki mit Lebensmittel beliefern.

Am Sonntag fand der Zerstörer Chokai der japanischen Marine einen 60-jährigen Mann 15 Kilometer vor der Küste; er saß auf den schwimmenden Überresten eines Dachs. Er sei mitsamt seinem Haus ins Meer hinausgerissen worden, sagte er, als er nach dem Tsunami einige Besitztümer habe retten wollen. Das berichtet der Fernsehsender NHK. Der Mann hat keine schweren Verletzungen. Dennoch ist er verzweifelt: Vor der ersten Welle habe er sich mit seiner Frau auf eine höhere Stelle gerettet, doch nun habe er keine Ahnung, wo sie sei.

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