Japan:Eine andere Welt

Ein Mann tötet 19 Bewohner eines Behindertenheims, in dem er selbst gearbeitet hat. Ein paar Monate zuvor hatte er seine Tat in einem Brief regelrecht angeboten: "Es ist besser, wenn die Behinderten verschwinden."

Von Christoph Neidhart, Tokio

Es war 2.30 Uhr in der Nacht auf Dienstag, als bei der Polizei im japanischen Sagamihara ein Notruf einging. In einem Behindertenheim trage sich gerade etwas Schreckliches zu, erklärte der Anrufer, der in dem Heim arbeitete. Menschen würden ermordet. Nur 15 Minuten später hatte die Polizei den Täter: Ein junger Mann, der mindestens 19 Bewohner des Heims getötet und 20 weitere schwer verletzt hatte, war in der Zwischenzeit mit seinem eigenen Auto zur Polizei gefahren und hatte sich gestellt. "Ich habe es getan", sagte der 26-Jährige der Polizei. "Es ist besser, wenn die Behinderten verschwinden." Eine Tasche mit drei blutverschmierten Messern hatte er noch dabei.

Nach Angaben des japanischen Fernsehens hatte der Mörder bis vor wenigen Monaten selbst in dem Behindertenheim in einem Park am Rande von Sagamihara gearbeitet, einer industrialisierten Vorstadt von Tokio. In der Nacht soll er dann in das Heim eingedrungen sein, indem er im Erdgeschoss eine Scheibe zerschlug. Mitarbeiter fesselte er mit Kabelbindern. Dann tötete er nach und nach Menschen in zwei verschiedenen Gebäudeteilen der Anlage. Die Ermordeten waren zwischen 19 und 70 Jahre alt, zehn der 19 waren Frauen.

Vier Jahre lang war der 26-Jährige in dem Heim tätig gewesen, in dem 160 Menschen leben. In dieser Zeit hatte sich in ihm offenbar ein tiefer Hass gegen behinderte Menschen entwickelt. Japanische Medien berichten, er habe im Februar der Residenz des japanischen Parlamentspräsidenten einen Brief übergeben, in dem er erklärte, er könne "für Japan" 470 Behinderte töten. Er wäre in der Lage, in einer einzigen Nachtschicht in Tsukui und einem zweiten Heim 260 Menschen zu töten, die Angestellten würde er verschonen. "Mein Ziel ist eine Welt, in der Schwerbehinderte mit der Zustimmung ihres Vormunds euthanasiert werden können, wenn sie nicht zu Hause wohnen und am Gesellschaftsleben teilnehmen können", schrieb er. Tage später habe er Mitarbeitern des Heims gesagt, er werde Behinderte töten, woraufhin diese die Polizei verständigten. Der Mann wurde daraufhin in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, aber schon knapp zwei Wochen später wieder entlassen. Ärzte waren zu dem Schluss gekommen, dass er keine Gefahr für andere darstelle.

Japans Alten- und Behindertenpflege steckt in einer Krise, es fehlt an Personal, und die Löhne sind schlecht. Viele Pfleger sind gestresst. Das Gesundheitsministerium registriert regelmäßig Gewalt von Pflegern gegen betagte Patienten, 2014 waren es mehr als 300 schwere Fälle. In einem Altenheim in Kawasaki, einer Großstadt südlich von Tokio, stieß im vergangenen Jahr ein Pfleger drei greise Patienten von einem Balkon. Der Polizei sagte er, die Alten seien ihm auf die Nerven gegangen.

Auf die Bluttat in dem Behindertenheim reagierte Japan geschockt. Gewaltverbrechen sind hier selten. Gemessen an der Bevölkerungszahl geschehen in Japan dreimal weniger Morde als im auch schon als sicher geltenden Deutschland. 2001 erstach ein Mann in einer Schule in Osaka acht Kinder und verletzte 15 weitere. Und 2008 raste ein 25-Jähriger mit einem Lkw in eine Straße in Tokios Elektronikbezirk Akihabara; dort sprang er aus dem Auto, erstach einen Passanten und verletzte sieben Menschen mit einem Messer. Er sagte der Polizei, er habe einfach jemanden töten wollen. 2009 wurde er zum Tode verurteilt, das Urteil wurde inzwischen vollstreckt.

Dass in Japan oft mit Messern gemordet wird, hat seinen Grund: Die Waffengesetze dort sind so streng, dass sich selbst die Mitglieder der Yakuza, des organisierten Verbrechens, scheuen, Schusswaffen zu tragen. Die seltenen Mehrfachmorde geschehen deshalb meist mit Messern. Allerdings ist auch der Besitz von Schwertern und Dolchen seit 2009 strafbar.

Das Gedankengut des Täters, wonach Menschen mit Behinderungen besser tot seien, ist aus der japanischen Gesellschaft noch nicht verschwunden. Erst in den letzten Jahren hat sich die Haltung Behinderten gegenüber langsam verändert, nicht zuletzt unter dem Druck des Auslands.

Bis vor wenigen Jahren fehlten Menschen mit Behinderungen im Straßenbild japanischer Städte völlig. Familien versteckten ihre behinderten Angehörigen. So haben U-Bahnen erst seit Kurzem Einrichtungen für Rollstuhlfahrer, und das Erziehungsministerium verbot behinderten Kindern noch vor wenigen Jahren den Besuch von Regelschulen. Man war der Meinung, es sei für beide Seiten besser, wenn sie getrennt lebten. Obwohl schon seit 30 Jahren ein Gesetz die Gleichbehandlung Behinderter vorschreibt, werden diese auch bei der Stellensuche benachteiligt. Sich seiner Gruppe anzupassen und nicht aufzufallen, ist in Japan das oberste soziale Gebot, Behinderte können es oft nicht erfüllen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: