120 Jahre Striptease:Illusionen von der Stange

Striptease-Bar in München, 2002

Richtige Namen zählen nichts: Striptease-Bar in München.

(Foto: Wildgruber, Josef)

Vor 120 Jahren wurde in einem Pariser Varietétheater der erste professionelle Striptease aufgeführt. Damals war es Kunst, heute geht es vor allem um sündhaft teuren Champagner und Unterhaltung für Junggesellenabschiede. Ein Besuch in einem Münchner Etablissement.

Von Oliver Klasen

Die genauen Umstände des Spektakels, welches sich am 13. März 1894 in einem Pariser Varietétheater ereignete und als der Ursprung des professionellen Striptease gilt, sind nicht mit letzter Sicherheit bekannt. Fest steht: Die Künstlerin, die damals in der Rue de Martyrs im Pariser Stadtteil Montmartre auf der Bühne stand, entledigte sich nach und nach sämtlicher Kleidungsstücke, nur eine vollkommen durchsichtige Strumpfhose soll übrig geblieben sein.

"Le Coucher d'Yvette", zu deutsch in etwa: "Yvette geht zu Bett", hieß die Darbietung der Überlieferung nach. Gerüchten zufolge soll der Schriftsteller Charles Baudelaire anwesend gewesen sein, und die Dame musste für ihre frivole Darbietung offenbar sogar eine Geldstrafe zahlen. Der Name des Etablissements wird manchmal mit Divan Fayounau, manchmal mit Divan Japonais angegeben, auch über das Datum gibt es ein paar Unsicherheiten, kurzum: die Quellenlage ist einigermaßen verwirrend.

Vor allem aber ist die Identität der professionellen Nackttänzerin nicht sicher geklärt. Vielleicht liegt das daran, dass das Geschäft eines ist, in dem richtige Namen nicht viel zählen. Daran hat sich auch 120 Jahre später nichts geändert. Im Gentlemen's Club "Boobs" im Münchner Bahnhofsviertel sitzt eine gewisse Monica auf einem Hocker an der Bar. Monica, 27, lange, fast schwarze Haare, Tribal-Tattoo auf dem Rücken, kommt aus einer kleinen Stadt in Rumänien und ist mit Unterbrechungen seit neun Jahren Striptease-Tänzerin. Ihr Vater hat nur eine deutlich entschärfte Version der Wahrheit erzählt bekommen. Ihrer Mutter aber hat sie irgendwann am Telefon gestanden, wie sie ihr Geld tatsächlich verdient, selbst an mittelmäßigen Abenden viel mehr als sie in Rumänien je bekommen könnte.

Zu weit weg von den Boobs

Weil Monica so erfahren ist, gibt sie ihr Können manchmal in Striptease-Kursen an andere Kolleginnen weiter und übt mit ihnen, wie sie die Stange beim Tanzen richtig einsetzen. Neben ihr sitzt Lothar, 54, der stellvertretende Geschäftsführer, dessen Nachname ebenfalls nichts zur Sache tut, wie er sagt. Er ist unter anderem dafür zuständig, dass im Club immer genug Champagner da ist und auch genug Tänzerinnen.

Die beiden haben kurz Zeit, Monicas Einsatztermine in der kommenden Woche zu besprechen. In dieser Mittwochnacht um kurz vor halb zwei ist wenig los im "Boobs". Ein einzelner Gast im hinteren Teil des Raumes sitzt ein paar Meter von der Bühne entfernt. Vielleicht sind die Boobs, die dem Lokal seinen Namen geben, zu weit weg für ihn, vielleicht hat er zu viel Alkohol erwischt, jedenfalls sieht sich Lothar in der Verantwortung, kurz zu ihm zu gehen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

Das Licht, das die Bühne ausleuchtet, changiert zwischen kräftigem Magenta und weichem Violett. Beim Interieur dominieren Weißtöne. Gäbe es die beiden verchromten Stangen an den Enden der Tanzfläche nicht, man könnte das "Boobs" für eine etwas schickere, gewissermaßen typische Münchner Cocktailbar mit Tanzfläche halten - nur, dass die Getränke noch ein kleines bisschen teurer sind.

Drei junge Männer, Typ BWL-Studenten mit in etwas zu großer Eile gebügelten Hemden, sitzen auf den Sesseln direkt vor der Tanzfläche. Sie starren auf die Tänzerin, die, vielleicht 50 Zentimeter entfernt, ihre Beine, ihren Rumpf und die großen Brüste um die Stange - nun ja, man kann fast sagen - herumwickelt und dann, kopfüber, den Körper unter voller Spannung, ganz langsam gen Boden rutscht. Alles an den dreien sagt: Wow! Und ihre ehrliche Bewunderung zeigt sich darin, dass sie alle der Dame einen Papierschein hinters Strumpfband stecken. Die Scheine kann man für einen Euro bei der Bedienung kaufen; sie sind Dollar-Noten nachempfunden, denn die europäische Währung ist strukturell ein wenig im Nachteil beim Striptease.

"6000 Schweizer Franken an einem einzigen Abend"

50 Prozent der Einnahmen aus den Dollars, 50 Prozent von jedem sogenannten Privat-Dance, bei denen ein Gast eine der Tänzerin in einer Lounge fünf Minuten lang für sich alleine hat, außerdem Prozente an den Champagnerkäufen, zu denen die Männer animiert werden sollen, so verdienen die Frauen ihr Geld. "Übrigens bekommen sie dann am meisten, wenn sie nicht übertrieben gut aussehen", sagt Lothar. Die Männer haben offenbar Angst vor sehr attraktiven Frauen.

"Einsteiger-Angebote", so nennt er die Dollars und die 50 Euro teuren Privat-Dances. Wenn ein Gast mehr ausgeben will, sind ihm wenig Grenzen gesetzt. Die Piccolo-Flasche Champagner kostet 80 Euro, für die großen Flaschen sind hohe drei bis vierstellige Beträge fällig. "6000 Schweizer Franken an einem einzigen Abend", sagt Monica. So viel habe sie einmal verdient, als sie noch in einem Schweizer Club gearbeitet habe. Allerdings waren dazu viele, viele Privatshows und ein sehr, sehr generöser Geschäftsmann nötig.

"So etwas gibt es heute kaum noch", sagt Lothar. Da müssten sich die Tänzerinnen, die alle selbständig sind, teilweise mit weniger als 150 Euro pro Tag begnügen. Selbst reiche Leute sparten an der Gastronomie und seien nicht mehr so großzügig mit dem Champagner.

Lothar kann das beurteilen. Schon 1994 war er dabei, als in Düsseldorf der erste Tabledance-Club Deutschlands aufmachte. Lothar, der in seinem früheren Leben Bürokaufmann in einer Spedition war, stammt aus Aachen. Er sagt deshalb dat und wat, wo normalerweise das und was gesagt würde und nennt die Dinge gerne kurz und bündig beim Namen. "Die Frauen Nutten, die Männer Luden", so sei häufig das Bild, das Menschen zu Unrecht von Läden wie dem "Boobs" hätten. Natürlich sei Vieles problematisch, zum Beispiel, "dass unser Geschäft eines ist, in dem ständig Alkohol verfügbar ist". Weil die Karriere als Tänzerin oft mit spätestens 35 Jahren vorbei ist, rate er außerdem allen Frauen, eine Ausbildung zu machen und das Tanzen nicht als Hauptberuf zu betreiben.

Schuld am Niedergang? "Der Euro und das Internet"

Lothar hält jetzt einen kleinen Vortrag über seine Branche - und er beschreibt einen schleichenden Niedergang. Die Rekrutierung guter Tänzerinnen sei schwieriger geworden und viele der Läden, die vor zehn, 15 Jahren noch gut gelaufen seien, hätten inzwischen große Mühe, rentabel zu arbeiten. Nur mit Junggesellenabschieden und trashigen Flatrate-Trinkangeboten könnten sie bestehen. "Das ist nicht so richtig mein Geschäft", sagt Lothar. "Ich bin ein alter Klassiker", wozu für ihn auch gehört, dass er immer großen Respekt vor den Frauen hat, so wie er überhaupt Respekt hat vor Leuten, die mit harter Arbeit ihr Geld verdienen.

Die Suche nach den Gründen für den Niedergang hat Lothar zu einer Erkenntnis geführt, die sich auf zwei Worte eindampfen lässt: "Der Euro und das Internet". In Zeiten, in denen Sex in all seinen Aggregatzuständen jederzeit und kostenlos mit ein paar wenigen Klicks frei im Netz verfügbar ist, muss eine Tänzerin niemanden mehr anteasern. Die Kunst, die ursprünglich aus geschickt gesetzten sexuellen Andeutungen und gezielter Verzögerung beim Ausziehen bestand, verliert ihren Sinn. Anders als in den zwanziger Jahren, als Anita Berber die Männer in Berliner Varietétheatern mit einer exzentrischen und hemmungslosen Performance reihenweise verrückt machte.

Doch warum gehen Männer überhaupt noch zum Striptease, oder besser zum Tabledance, wie die aus den USA kopierte, moderne Variante mit den Stangen und den Dollars genannt wird? "Wir verkaufen Illusionen", sagt Lothar. Und zu dieser Illusion gehört seiner Meinung nach auch, dass ein Mann, der einer Frau einen Dollarschein in den Slip steckt und sich ansonsten an das ungeschriebene Gesetz halten muss, auf gar keinen Fall anzufassen, ja höchstens in dieser Illusion fremdgeht.

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