Intuition:Das innere Auge

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Die Intuition verleiht dem Menschen enorme Fähigkeiten - er muss nur wissen, wann er ihr vertrauen kann.

Von Christina Berndt

Als der 16-Jährige sie um Hilfe bat, fühlte Jackie Larsen einen Stich in der Magengegend. Irgendetwas, da war sie sich sicher, war extrem faul mit dem jungen Christopher Bono, der mit seinem Wagen liegen geblieben war.

"Ich bin eine Mutter, und deshalb rede ich zu dir wie eine Mutter", sagte sie zu ihm, ohne dass sie so genau wusste, warum. Christopher jedenfalls schaute sie plötzlich ganz merkwürdig an. "Ich weiß nicht, wo meine Mutter ist", sagte er nur.

Sobald der Junge verschwunden war, rief Larsen die Polizei. Bonos Auto war auf den Namen seiner Mutter irgendwo in Illinois registriert. Dort lag Lucia Bono tot in ihrer Badewanne. Christopher hatte seine Mutter umgebracht.

Einfach aus dem Bauch heraus wusste Jackie Larsen, was sie tun musste. Blitzschnell entschied ihr sechster Sinn, was richtig war. Geheimnisvoll, irrational, irgendwie übersinnlich scheint die Intuition zu sein, die tagtäglich so viele Entscheidungen für uns fällt.

"Intuition ist aber nicht magic", stellt Cornelia Betsch klar. Die Psychologin erforscht an der Universität Heidelberg das Phänomen, das zugleich fasziniert und misstrauisch macht.

Die Intuition falle nicht vom Himmel. "Vielmehr greift unsere innere Stimme auf unseren gesamten Erfahrungsschatz zurück", sagt Betsch, "auf alle Reaktionsmuster, Einschätzungen und Kenntnisse, die sofort abrufbar sind - ohne dass wir darüber nachdenken."

Anders als der Instinkt, der in Extremsituationen automatisch ein Verhaltensprogramm in Gang setzt, ist die Intuition pure Kreativität. Sie fällt Urteile, schafft Vorlieben oder treibt Entscheidungen voran.

Verpönter Bauch

Intuition ist eine Art Begabung, die mit dem Erfahrungsschatz mitwächst. Nur aus einem Grund wirkt sie so unergründlich: weil wir nicht wissen, dass wir wissen, was wir wissen.

Daran liegt es auch, dass Intuition oft verpönt ist. "Viele Manager schämen sich, wenn sie aus dem Bauch entscheiden", sagt Betsch. "Dabei ist ihre Intuition im Geschäftsalltag oft sehr gut, weil sie in diesem Bereich so viel Erfahrung haben."

Der sechste Sinn ist nämlich höchst individuell. Busfahrer haben eine andere Intuition als Kriminalkommissare. Und während der Laie hilflos vor einem Schachbrett sitzt, erkennt der erfahrene Schachspieler sofort, welche Figur er wohin ziehen muss.

"Wenn sich ein Champion trotzdem Zeit für langes Überlegen nimmt, wird er fast immer auf seinen ersten Einfall zurückkommen", sagt der Psychologe Markus Raab von der Universität Flensburg.

Gerade bei Experten führt das mentale Durchspielen aller Möglichkeiten also nicht unbedingt zu besseren Entscheidungen. Selbst Albert Einstein wusste: "Wenn man gar nicht gegen die Vernunft sündigt, kommt man zu überhaupt nichts."

Schließlich ist die Vernunft keineswegs so vernünftig, wie sie zu sein verspricht. Dennoch distanziert sich der Mensch gern von jenen Begabungen, die es unterhalb der obersten Bewusstseinsebene gibt - spätestens seit der Philosoph René Descartes sein "Ich denke, also bin ich", von sich gab.

Dabei mischt sich Unbewusstes selbst in vermeintlich rationale Entscheidungen gehörig ein.

Denn Emotionen und Erfahrungen entscheiden darüber mit, was auf die Für- und Wider-Listen der Logik gesetzt wird. "Wir müssen lernen uns damit wohlzufühlen, dass wir manchmal einfach nicht wissen, warum wir etwas tun", sagt Arvid Kappas, Psychologie-Professor an der Internationalen Universität Bremen.

100.000 Entscheidungen am Tag

Ohne den inneren Autopiloten kämen wir jedenfalls kaum klar. Bis zu 100.000 Entscheidungen trifft der Mensch pro Tag. Nur für die wenigsten ("Verkaufe ich meine Aventis-Aktien an Sanofi-Synthélabo?") kann er viel Zeit aufwenden.

Die allermeisten aber ("Greife ich mit der Linken oder mit der Rechten zum Telefonhörer?" "Was sage ich meiner Nachbarin, wenn sie mich fragt, wie's mir geht?") fallen in enormem Tempo.

"In manchen Dingen ist unser Bauchgefühl erschreckend gut", sagt der Intuitions-Experte David Myers vom Hope-College in Michigan. Andere Menschen einschätzen, Gefühle in ihren Gesichtern lesen oder Situationen beurteilen - darin sei die Intuition einfach unschlagbar.

"Ich selbst habe vor langer Zeit spontan Gefallen an einer anderen Jugendlichen gefunden", witzelt Myers. "Heute bin ich mit ihr fast 40 Jahre verheiratet."

Psychologen von der Harvard-Universität gingen das ganze wissenschaftlicher an: Sie haben Testpersonen wenige Sekunden lange Filmaufnahmen von Lehrern im Unterricht gezeigt. Was die Probanden anschließend über die Pädagogen sagten, stimmte in hohem Maße mit der Beurteilung von Schülern nach einem halben Jahr Unterricht überein.

Anstrengend und langsam

Das intuitive Denken sei "wahrnehmungsähnlich, schnell und mühelos", folgert der Kognitionswissenschaftler und Nobelpreisträger Daniel Kahneman; dagegen sei das logische Denken anstrengend und langsam. Schon deshalb kommen Menschen, die nur nach gründlicher Abwägung entscheiden, zu nichts.

Solche Zeitgenossen kennt der Hirnforscher Antonio Damasio. Oft erzählt er von einem Patienten, dessen Stirnhirn bei einem Unfall geschädigt worden ist. Wenn er mit diesem Mann ein Treffen vereinbaren will, muss Damasio eines auf jeden Fall vermeiden: ihm zwei Termine zur Auswahl vorzuschlagen.

Dann nämlich zählt der Patient eine halbe Stunde lang alle Gründe auf, die für und gegen jeden der beiden Termine sprechen - entscheiden aber kann er sich nicht. "Wenn wir einen Konflikt lösen müssen und nur Logik anwenden, können wir ergebnislos den ganzen Tag damit zubringen", sagt Damasio. "Ohne Emotionen würden wir sehr, sehr dumm dastehen."

Leistungen und Gefahren

Allein der Intuition zu vertrauen, macht allerdings auch nicht selig. "Intuition ohne Intellekt ist ein Unglück", befand der französische Dichter Paul Valéry.

Und nicht umsonst hat David Myers eines seines Bücher "Intuition - ihre Leistungen und Gefahren" genannt (Intuition: Its powers and perils, Yale University Press). Schließlich lässt sich die Nadel des inneren Kompasses durchaus ablenken.

Denn die Einstellung wird dadurch beeinflusst, dass man eine Situation mit einer anderen verwebt, nur weil es damals so ähnlich roch, oder auch durch eine miese Stimmung, in der man sich gerade befindet. Dann nämlich zieht man andere Erfahrungen zur Entscheidung heran, als wenn man bester Laune ist.

Noch dazu werden intuitive Eindrücke auch vom Verstand beeinflusst. Das zeigt ein Experiment, das John Darley und Paget Gross schon 1983 in den USA durchgeführt haben. Die beiden forderten zwei Gruppen auf, dasselbe Mädchen während eines Tests zu beurteilen.

Das Ergebnis war höchst widersprüchlich: "Intelligent, aufgeschlossen, begabt", sagten die einen über Hannah, "gehemmt, schwierig und lernschwach", die anderen. Die Erklärung: Die beiden Gruppen hatten zuvor unterschiedliche Informationen über Hannahs Elternhaus bekommen. Einmal wohnte die Viertklässlerin angeblich in einem feinen Viertel, das andere Mal inmitten eines sozialen Brennpunkts.

Besonders häufig aber versagt das Bauchgefühl, wenn es um Selbsterkenntnis geht. Als Psychologen auf dem Standesamt 130 Hochzeitspaare nach der aktuellen Scheidungsquote fragten, wussten diese sehr gut Bescheid. Ausnahmslos gingen aber alle Paare davon aus, dass sie selbst nicht zu dieser Quote beitragen würden. Eine Einschätzung, die in wenigen Jahren wohl von jedem dritten Paar revidiert werden muss.

Wann der Bauch entscheiden darf

"Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott!" Diesen freudigen Ausruf von Shakespeares Hamlet kann die Intuition trotz ihrer mitunter verblüffenden Leistungen wohl nicht untermauern.

Dennoch lässt sich die Begabung aus dem Bauchraum gezielt nutzen. Dazu empfiehlt Cornelia Betsch eine spezielle Strategie: Am besten wäre es, zunächst seine innere Stimme zu Wort kommen zu lassen, so die Psychologin; danach erst sollte man sich überleben, ob man auf dem Gebiet, um das es geht, überhaupt genügend erfahren für eine Bauchentscheidung ist.

"Jeder Mensch muss wissen, wann er seine Intuition einsetzt", sagt Betsch. "Man sollte nicht voreilig auf sie hören oder nur, weil man zu faul zum Nachdenken ist."

Dann, so die Psychologin Marcia Emery, die mehrere Bücher über die Intuition geschrieben hat, gewinnt man mit dem Bauchgefühl "die tiefste Weisheit der menschlichen Seele".

© SZ vom 16.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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