Interview: Missbrauch:"Staufen war nur die Spitze eines riesigen Eisberges"

Prozess im Missbrauchsfall Staufen

Das Ufer des Stadtsees in Staufen. In der 8000-Einwohner-Stadt im Breisgau wurde ein Junge über Jahre missbraucht.

(Foto: dpa; Bearbeitung SZ)

Heute beginnt der Prozess gegen eine Mutter und ihren Freund, die den Sohn missbraucht und im Internet zur Vergewaltigung angeboten haben. Psychiater Jörg Fegert arbeitet täglich mit misshandelten Kindern.

Interview von Max Sprick

An diesem Montag beginnt vor dem Freiburger Landgericht der Prozess gegen eine 48-jährige Frau und ihren 39-jährigen Lebensgefährten. Sie sollen den heute neunjährigen Sohn der Frau laut Anklage mehr als zwei Jahre lang selbst missbraucht und im Darknet für Vergewaltigungen angeboten haben. Mehrere Männer missbrauchten den Jungen sexuell, misshandelten und erniedrigten ihn und filmten und fotografierten ihn dabei.

Heute gehe es dem Jungen den Umständen entsprechend gut, sagt eine Polizistin, die ihn regelmäßig besucht. Wo er lebt und wie er untergebracht ist, wird geheim gehalten, er soll endlich geschützt sein. Jörg Fegert ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und seit 2001 Ärztlicher Direktor der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm. Er weiß, wie es Kindern nach schweren Misshandlungen und Missbräuchen geht - und wie man ihnen hilft.

Interview am Morgen

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Herr Fegert, ist Ihnen ein Fall solchen Ausmaßes schon einmal begegnet?

Nein, dieser Fall ist in seiner kriminellen Grausamkeit einmalig. Hier ist etwas ans Licht gekommen, das leider häufig, aber eben oft unentdeckt passiert. Gewalttaten an Kindern, die auf Videos und Fotos festgehalten werden, haben in den vergangenen Jahren erschreckend zugenommen. Der Fall Staufen hat die Gesellschaft aufgerüttelt, weil er durch die bislang erfolgten Geständnisse die Möglichkeit gibt, nachzuvollziehen, wie ein Kind zur Ware degradiert wird.

Der Junge befindet sich mittlerweile in staatlicher Obhut, es soll ihm den Umständen entsprechend gut gehen. Können Sie einen Eindruck vermitteln, wie es in seiner Seele aussieht?

Ich selbst weiß nicht, wie es ihm geht. Ich kann nur aus meiner klinischen Erfahrung in diesem Bereich und aus der Forschungsliteratur sagen, dass solche schwerbelastenden Ereignisse natürlich das Risiko psychischer Störungen, aber auch von körperlichen Spätfolgen erhöhen. Ich rede dabei aber immer von relativen Risiken: Selbst die schrecklichste Erfahrung muss nicht zwingend bedeuten, dass das Kind langfristig darunter leidet. Geeignete Therapieformen können ihm helfen, das Geschehene zu verarbeiten und vielleicht auch damit abzuschließen. Ungeschehen machen kann man eine solche Erfahrung nicht. Aber man kann durch vernünftige Traumatherapie lernen, damit umzugehen. Ich habe aber auch Kinder erlebt, die schwer sexuell missbraucht oder misshandelt wurden, und zunächst keine behandlungsbedürftigen Folgen aufweisen.

Man kann also nicht sagen: Der Junge ist für sein Leben gezeichnet.

Auf keinen Fall. Und das ist auch ganz wichtig, wir dürfen Betroffene nicht als dauerhafte Opfer darstellen. Das wäre entmutigend.

Der Junge soll vor dem Freiburger Landgericht nicht aussagen. Sie haben im Interview mit dem SWR gesagt, es sei ein "zentrales Missverständnis, wenn Richter meinen, ein missbrauchtes Kind dadurch zu schonen, dass man es nicht anhört". Sollte man den Jungen Ihrer Meinung nach noch vorladen?

Dass ihm die Schilderung seines Leids im Strafverfahren erspart bleibt, ist wichtig, das schont ihn tatsächlich. Was ich kritisiert habe, zielte auf etwas anderes: Es liefen ja zwei familiengerichtliche Verfahren, die dazu geführt haben, dass der Junge zurück zu seiner Mutter und ihrem Partner kam, die ihn weiter missbrauchten und zum Missbrauch anboten. Das Jugendamt hatte mehrmals beantragt, ihn aus der Familie zu nehmen, doch den Anträgen der Mutter wurde stattgegeben. Dem Jungen wurde ein elementares Grundrecht verweigert, er wurde von der Familienrichterin nicht angehört. Aus dem strafrechtlichen Verlauf wissen wir nun, dass das Kind in der Lage war, Aussagen zu machen. Es hätte vermutlich also auch mit der Familienrichterin gesprochen, deren Urteile dann wahrscheinlich anders ausgefallen wären.

Sie haben die familiengerichtlichen Verfahren angesprochen. Was muss sich ändern, damit Kinder nicht mehr in Familien zurückgeschickt werden, in denen ihre Sicherheit bedroht ist?

Im baden-württembergischen Landtag gab es nach Bekanntwerden des Staufener Falls eine Anfrage der Opposition zu diesem Thema. Die Landesregierung hat es dann so dargestellt, als wäre im juristischen Bereich und in der Versorgung des Jungen alles richtig gemacht worden. Dafür fehlt mir das Verständnis. In England zum Beispiel werden in solchen Fälle Kommissionen gebildet, die sich dann dafür einsetzen, dass die Gesellschaft viel breiter über das Geschehene nachdenkt und Konsequenzen zieht. Solche Kommissionen bräuchte es auch in Deutschland.

Bundesjustizministerin Katarina Barley forderte als Konsequenz aus dem Staufener Fall eine Reform der Familiengerichte und zwingend Fortbildung für Richter zum Thema.

Auch der neue Koalitionsvertrag zeigt mehrere direkte Spuren dieses Falls. Es gibt verschiedene Forderungen, unter anderem, dass Familienrichter durch Personen mit Erfahrung im Gewaltschutz beraten werden sollen. Mittlerweile ist die Debatte aber wieder verstummt. Gerade haben die Justizminister der Länder getagt und sich gegen verpflichtende Richterfortbildungen ausgesprochen.

Mit welcher Begründung?

Sie begründen es mit der richterlichen Unabhängigkeit - zugegebenermaßen ein hohes Gut nach zwei diktatorischen Systemen auf deutschem Boden. Im Konkursrecht werden Spezialkenntnisse zwingend vorgeschrieben - es geht also. Und hier geht es um die elementaren Grundrechte von Kindern und da soll das nicht möglich sein? Mit Verlaub: Das empört mich.

Was kann die Gesellschaft tun, damit grausame Fälle wie der in Staufen verhindert werden?

Als Erstes müssen wir akzeptieren, dass der Fall in Staufen nur die Spitze eines riesigen Eisberges darstellt: Es gibt viel mehr sexuellen Missbrauch und Kindesmisshandlungen als den meisten bewusst ist. Bei repräsentativen Befragungen gibt ein Drittel an, in der Kindheit vernachlässigt, missbraucht oder misshandelt worden zu sein. Darauf sind weder Krankenhäuser, noch Schulen oder die Jugendhilfe eingestellt; die Familiengerichte schon gar nicht. Wenn man das wirklich ernst nehmen will, muss man Geld in die Hand nehmen und zum Beispiel endlich Beratungsstellen vernünftig finanzieren. Da so viele Bereiche ausgebaut werden müssen, sollte auf höchster Ebene etwas passieren.

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