Indien:Sie prügeln Menschen tot, weil sie Fake News gelesen haben

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In Indien vergeht keine Woche, ohne dass nicht Menschen aufgrund von Falschmeldungen getötet werden. Doch es gibt auch große Demonstrationen dagegen. (Foto: imago/Hindustan Times)
  • Indien ist eine Whatsapp-Nation. Mehr als 200 Millionen Menschen nutzen dort den Online-Dienst.
  • Die Fälle häufen sich, in denen Fake News - verbreitet über Whatsapp - Lynchmobs provoziert hat.
  • Fünf Männer in Maharashtra wurden am vergangenen Wochenende zu Tode geprügelt. Es hatte Gerüchte gegeben, dass sich Kindesentführer in der Gegend herumtreiben würden.

Von Arne Perras

Die beiden jungen Männer hatten keine Ahnung, was die Nacht noch bringen würde. Ihnen war bei der Fahrt durch ein Dorf in Zentralindien das Benzin ausgegangen und sie suchten nach jemandem, der ihnen helfen könnte. Eigentlich keine große Sache, wo doch immer irgendjemandem irgendwo in Indien der Sprit ausgeht. Und so klopften Sheikh Rizwan und Prem Singhare an die Tür eines Hauses, in der Hoffnung, dass sie trotz später Stunde noch ein paar Tropfen Treibstoff ergattern würden.

Doch da war kein Benzin für die beiden Männer. Nur eine sehr große, lebensgefährliche Wut im Dorf.

Die Inder waren zur falschen Zeit ins falsche Dorf geraten. Denn dort ging ein wildes Gerücht um. Angeblich war eine Verbrecherbande im Distrikt Balaghat unterwegs. Männer, die nachts umherschlichen, um Leute zu ermorden und ihnen die Organe aus dem Leib zu schneiden. Hunderte Nierendiebe sollten in die Gegend eingefallen sein, so stand es in Meldungen auf Whatsapp. Alles fake, wie sich später herausstellte, die Polizei nahm einige Tage danach drei Verdächtige fest, die solche Meldungen verbreitet hatten.

Doch Mitte Juni waren die Gerüchte noch frisch, sie hatten sich schnell verbreitet und schürten Panik. Und dann tauchten plötzlich die beiden Fremden auf, die an Türen klopften, mitten in der Nacht. Es dauerte nicht lange, bis sich eine wütende Menge versammelt hatte. Und so begann eine Menschenjagd, die es ohne die Lüge über die Nierendiebe wohl nie gegeben hätte.

Der Mob ließ den Männern keine Chance, alle fünf wurden zu Tode geprügelt

"Indien ist eine Whatsapp-Nation geworden", sagt Pawan Duggal, Experte für Internetrecht. Mehr als 200 Millionen Menschen nutzen den Online-Dienst auf dem Subkontinent, nirgendwo ist der Markt für Whatsapp größer. Das sei einerseits prima, weil die Chats so viele Menschen verbinden. Anderseits findet der Jurist Duggal das bedrohlich, weil sein Land in keiner Weise für die Gefahren gewappnet sei, die sich aus der Flut von Falschmeldungen ergeben, die in Indien in Umlauf sind. Die beiden Männer, die in jener Nacht als Nierendiebe verdächtigt wurden, hatten noch riesiges Glück, dass Polizisten rechtzeitig einschritten, um den Mob zu bändigen. In solchen Momenten entscheiden oft Sekunden über Leben oder Tod.

Für fünf Männer in Maharashtra gab es am vergangenen Wochenende keine Rettung. Sie waren Nomaden und wollten auf den Markt. Als einer von ihnen offenbar ein kleines Mädchen ansprach, reichte das schon, um Leute in Rage zu bringen. Der Mob ließ den Männern keine Chance, alle fünf wurden zu Tode geprügelt. Die Polizei sagte nach ersten Ermittlungen, dass auch diese Attacke durch "falsche Gerüchte" über angebliche Kindesentführer in sozialen Medien ausgelöst worden war.

Die Fälle häufen sich, nahezu jede Woche ist nun über solche Angriffe in Indien zu lesen, oft gibt es Verletzte und immer wieder auch Tote. Im Juni rüttelte der Tod zweier Männer in Assam die Nation auf, sie hatten nur einen Ausflug in die Berge unternehmen wollen und fragten in einem Dorf nach dem Weg. Dort aber stürzte sich eine Gruppe auf sie, aufgehetzt durch Gerüchte, dass die beiden einer Kidnapper-Bande angehören würden. Das war frei erfunden, hatte sich aber per Whatsapp blitzartig verbreitet.

Die Männer waren Künstler, keine Verbrecher, genauso unschuldig wie der Bauarbeiter Kaalu Ram, der in Bangalore erschlagen wurde, am helllichten Tag auf offener Straße. Der 26-Jährige suchte nur Arbeit. Doch über Whatsapp waren Meldungen über eine Horde Kindesentführer im Umlauf. Angeblich strömten sie zu Hunderten in die Stadt, auch dafür gab es keine Belege, aber Mütter ließen ihre Kleinen nicht mehr auf die Straße, Fremde wurden beäugt. So wurde auch Ram verdächtigt: Sie fesselten ihn, prügelten ihn und schleiften ihn durch die Straßen, er starb auf dem Weg in die Klinik.

Massenhysterie und Lynchjustiz sind keine neue Phänomene in Indien, in einem Land mit großen sozialen Spannungen und einem völlig überforderten Justizsystem hat es immer Fälle gegeben, in denen schon ein Gerücht einem Todesurteil gleichkam, in denen eine Menge nicht mehr zu halten war, Polizisten zu feige waren oder zu spät kamen. Dennoch zeigen gerade die jüngsten Angriffe in unterschiedlichen Gegenden Indiens, dass die sozialen Medien das Problem erheblich verstärken. Der Staat wirkt ohnmächtig angesichts unberechenbarer Aufwallungen von Gewalt, an deren Anfang nun fast immer eine Meldung in den sozialen Netzwerken steht. "Dieser Zusammenhang ist nicht zu leugnen", sagt Duggal, der Staat müsse sich schnellstens damit beschäftigen.

Fast immer beginnt die Gewalt in den sozialen Netzwerken

"Jeder Inder ist ja nun ein Sender", sagt Duggal, das ständige Posten sei für Millionen eine Sucht. "Soziale Medien sind ein riesiger Whirlpool, man weiß nie, was sie alles in der nächsten Minute hochwirbeln." Die Betreiber von Social-Media-Plattformen machten es sich viel zu einfach, mahnt Duggal, sie hätten sich längst auf die Rolle eines bloßen Zuschauers zurückgezogen. Genauso wenig zeige der Staat einen Willen, den "Wilden Westen der sozialen Medien" zu kontrollieren und Regeln zu setzen.

Whatsapp bedauerte laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters, dass die Plattform auch manchmal dafür genutzt werde, um "schädliche Desinformationen zu verbreiten". Der Dienst versprach, "Aufklärungsanstrengungen zu verstärken". Doch Rechtsexperte Duggal kritisiert, dass Social-Media-Plattformen auf völlig unangemessene Weise auf die Fake-News-Krise reagierten. Die Betreiber drückten sich um "konsequenten Schutz vor Fake News".

Duggal räumt ein, dass jede Gesellschaft die richtige Balance finden müsse, um einerseits das Recht auf freie Information zu erhalten, andererseits aber auch Fake News zu bekämpfen. "Indien hat bisher nichts getan, um in dieser Richtung voranzukommen." Duggal sieht auch in der Erziehung einen Nachholbedarf. Eltern dürfte ihre Kinder nicht nur mit Smartphones versorgen, damit sie Ruhe geben.

Im Distrikt Balaghat, wo die beiden Männer ohne Benzin gerade noch mit dem Leben davonkamen, gibt es nun immerhin Aufklärung aus der Flüstertüte. Polizisten fahren von Dorf zu Dorf und trompeten hinaus, dass doch bitte niemand die Gerüchte von einer Invasion der Nierendiebe glauben solle. Das geht nicht so schnell wie auf Whatsapp, ist aber zumindest lauter.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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