Illegale in Deutschland:Bloß nicht krank werden

Illegal in Deutschland

Für Menschen, die illegal in Deutschland leben und krank werden, steht mehr auf dem Spiel als nur ihre Gesundheit.

(Foto: picture alliance / dpa)

Mehrere Hunderttausend Menschen leben illegal in Deutschland, oft viele Jahre. Ramira Pérez ist eine von ihnen. Als sie krank wird, steht ihre Existenz auf dem Spiel.

Von Carmen Gräf, Berlin

Ramira Pérez, die eigentlich anders heißt, ist eine zarte und scheue Frau um die 40. Sie hat einen kraftlosen Händedruck und eine matte, mädchenhafte Stimme. Seit mehr als zehn Jahren lebt die Kubanerin ohne Papiere in Deutschland. Manchmal, sagt sie, wird die Sehnsucht nach ihrem 21-jährigen Sohn und ihrer Mutter in der Heimat unerträglich. Seit sie hier ist, hat Pérez die beiden nicht mehr gesehen. Sie telefoniert mit ihnen, so oft es geht, und schickt ihnen Geld, das sie schwarz als Putzfrau verdient. "Ich bin 2003 mit einem Besuchervisum für drei Monate nach Deutschland gekommen und habe dann beschlossen, zu bleiben und Asyl zu beantragen", erzählt sie.

Da sie kein politischer Flüchtling war, wurde der Antrag abgelehnt. Sie kam aus dem Asylbewerberheim Würzburg nach Berlin. Eine andere Kubanerin stellte ihr einen Deutschen vor, mit dem sie schließlich zusammenzog. "Das war eine sehr schwierige Beziehung", sagt Pérez. Der Mann war gewalttätiger Alkoholiker. Trotzdem blieb sie jahrelang bei ihm, weil er drohte, sie anzuzeigen, würde sie sich von ihm trennen. Einmal wurde sie schon festgenommen. Sie verlor alle Jobs bis auf einen. Die Familie, bei der sie arbeitete, sagte, sie halte sie nicht für kriminell, half ihr, empfahl sie Freunden und Bekannten. Sie fand neue Jobs, in denen sie bis heute arbeitet.

Abgeschoben werden konnte Pérez damals nicht, weil es für Kubaner eine Sonderregelung gibt: Nach zwei Jahren außer Landes dürfen sie nach kubanischem Recht nicht mehr ohne weiteres in ihre Heimat zurück. Um ihren illegalen Aufenthalt in Deutschland zu beenden, könnte sie eine Duldung beantragen. Das bedeutet allerdings nur, dass die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt wird. Und Pérez müsste dafür zurück ins Asylbewerberheim nach Würzburg - und das möchte sie auf keinen Fall. Sie müsste schließlich ihre Wohnung und ihre Jobs in Berlin aufgeben.

Seit ihrer Festnahme lebt sie in ständiger Angst vor einer weiteren Verhaftung. "Wenn ich das Wort 'Ausweis' höre", sagt sie, "dann denke ich sofort, dass ich den Personalausweis vorlegen muss, so wie das in Kuba üblich ist. Wenn ich das Martinshorn der Polizei höre, habe ich Angst davor, dass mich die Polizei in meiner Wohnung suchen wird."

Depressiv durch Angst

Die ständige Angst machte Pérez krank. Sie wurde depressiv. Doch wer als illegaler Einwanderer in Deutschland krank wird, hat nicht nur mit der Krankheit an sich zu kämpfen, sondern muss mit Schlimmerem rechnen - im Zweifelsfall mit der Abschiebung.

Zwar haben Menschen, die illegal in Deutschland leben, Anspruch auf medizinische Versorgung. Doch sobald sie den dafür benötigten Krankenschein beim Sozialamt abholen, müssen die Sozialarbeiter sie den Behörden melden.

Ihre Rettung, sagt Pérez heute, war Susann Huschke. Eine resolute junge Frau mit funkelnden Augen und mitreißendem Temperament. Pérez lernte sie über das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin - kurz: Medibüro - kennen. Dort vermitteln Huschke und andere ehrenamtliche Mitarbeiter die Patienten an etwa 120 Ärzte, Heilpraktiker, Hebammen und Krankengymnasten. Diese behandeln anonym und kostenlos. So konnte Pérez eine Psychotherapie machen.

Ihr Schicksal sei typisch für das vieler Menschen, die hier ohne Papiere leben, sagt Huschke. Die Ethnologin hat im Rahmen ihrer Dissertation an der Freien Universität in Berlin die Lebenssituation illegaler Einwanderer untersucht. Derzeit kommen so viele Menschen nach Deutschland wie schon seit 17 Jahren nicht mehr. Das zeigte der kürzlich erschienene Migrationsbericht der Bundesregierung. Viele von denen, die der Traum von einem besseren Leben hierher führt, stranden in der Illegalität. In Deutschland leben derzeit etwa 140.000 bis 330.000 Menschen ohne Papiere, schätzt das EU-Projekt "Clandestino". Sie arbeiten vor allem in Restaurants, Hotels, Privathaushalten und bei Umzugsfirmen.

"Viele erleben einen Illegalitätsschock", sagt Huschke, "durch die Erfahrung, dass sie plötzlich als kriminell gelten, Verhaftung und Abschiebung drohen und Legalisierung nicht möglich ist." Warum bleiben sie trotzdem hier, in der Illegalität? Weil sie sich für ihre Familien in der Heimat verantwortlich fühlten und diese weiter unterstützen wollten, erläutert die Forscherin. Auch persönlicher Ehrgeiz oder Schulden können eine Rolle spielen.

Wenn Illegalität krank macht

Wie kommt es, dass viele Migranten so schlecht darüber informiert sind, was sie hier erwartet, und dann oft böse Überraschungen erleben? Huschke verwundert das nicht: "Gucken Sie doch mal in Fernsehshows rein wie 'Auf und davon - Mein Auslandstagebuch' oder 'Goodbye Deutschland! Die Auswanderer' - da geht es ähnlich zu." Nicht jeder Mensch, der woanders hinziehe, informiere sich vorher umfassend über die rechtliche Situation. Den meisten sei es zunächst wichtig, Geld zu verdienen und sich eine neue Zukunftsperspektive zu eröffnen. Der Kontakt ins Einwanderungsland komme außerdem meist über andere Migranten zustande. "Da werden die Informationen gefiltert," hat Huschke beobachtet, "weil die Menschen gehemmt sind, die volle, ungeschminkte Wahrheit zu erzählen - aus Scham, aus Stolz, aber auch, um die Leute zu Hause zu schützen."

Wer keine Papiere hat, lebe in einem Geflecht aus Einsamkeit, Missbrauch und Abhängigkeiten, so Huschke. Macht Illegalität krank? Definitiv, sagt sie. Eine solche Lebenssituation verstärke gesundheitliche Probleme und führe zu chronischen Erkrankungen. Die dauerhafte psychische Belastung könne zudem psychosomatische Beschwerden auslösen. Dazu gehörten etwa chronische Kopf- und Rückenschmerzen, Nervosität und Schlaflosigkeit.

Krank zu werden ist umso schlimmer für Menschen ohne Papiere, weil sie dadurch womöglich ihren Job verlieren, ihr Einkommen, ihre Wohnung. "Ich habe ständig Angst vor einem Arbeitsunfall", sagt Pérez. "Wenn mir bei der Hausarbeit etwas auf den Fuß fällt, könnte ich nicht mehr arbeiten."

Inzwischen weiß sie, dass sie im Medibüro Hilfe bekommt, ohne ihre Identität verraten zu müssen. Das hat sich jedoch noch längst nicht bei allen herumgesprochen, die in Berlin illegal leben. Viele haben Angst, denunziert zu werden, sobald sie sich wegen des Krankenscheins ans Sozialamt wenden. Die Gynäkologin Jessica Groß vom Medibüro fordert deshalb, den "Übermittlungsparagraphen" abzuschaffen, wonach Sozialarbeiter illegale Einwanderer, die krank werden, melden müssen. Die Regelung verhindere, dass Patienten rechtzeitig zum Arzt gingen. Sie berichtet von einem schweren TBC-Fall und einem Patienten mit einer fortgeschrittenen Aids-Erkrankung. Letzterer sei daran gestorben, da er erst sehr spät medizinische Hilfe gesucht habe - aus Angst, aufzufliegen.

Begrenzte Hilfen

Das müssen die Flüchtlinge, die ins Medibüro kommen, nicht befürchten. Dort hat die Polizei noch nie jemanden festgenommen. Der Politik sei die Arbeit des Medibüros sehr recht, denn so werde das das Problem abgemildert, sagt Huschke.

Für die Patienten bleibe aber immer ein Risiko. Sie berichtet von einer Frau, die nachts mit heftigen Schmerzen aufwachte. Da das Medibüro um diese Zeit geschlossen ist, blieb ihr nichts anderes übrig, als eine Freundin anzurufen und sich mit ihrer Gesundheitskarte ins Krankenhaus einliefern zu lassen. Wäre sie aufgeflogen, hätte ihr die Abschiebung gedroht und ihrer Freundin eine Strafanzeige.

Das Medibüro kann nicht allen Patienten helfen, weil die kooperierenden Ärzte oft keine Termine frei haben. Kompliziert wird es, wenn jemand ins Krankenhaus muss, sagt Jessica Groß. Bei schweren Erkrankungen könne man versuchen, einen Aufenthaltsstatus zu erwirken. Dabei arbeite das Medibüro mit Rechtsberatungsstellen zusammen. Das sei jedoch aufwändig und längst nicht immer möglich. Operationen versuche man aus Spendengeldern zu finanzieren.

Für Pérez und andere Einwanderer ohne Papiere wäre es eine existenzielle Erleichterung, sich in Deutschland krankenversichern zu können. In der Schweiz ist das bereits erlaubt.

Eigentlich sei es erstaunlich, dass Menschen unter diesem Dauerdruck funktionierten, sagt Huschke, "dass sie täglich zur Arbeit gehen, ihre Kinder großziehen und - wie Pérez - auch mit einer scheinbar ausweglosen Situationen zurechtkommen." Sie führt ein eintöniges und einsames Leben, arbeitet an sechs Tagen in der Woche und geht sonst kaum aus dem Haus. Wünsche, Pläne und Perspektiven? Pérez winkt ab: "Ich denke: Gott sei Dank habe ich Arbeit, um meiner Familie Geld zu schicken. Das ist das Einzige, was ich im Kopf habe. Und ich versuche, nicht an meine Zukunft zu denken, das ist zu schmerzhaft."

In der Illegalität kann man ohnehin nicht planen.

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