Hongkong:Im Polarwirbel

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"Meine Füße sind taub", meldet ein Student vom höchsten Berg Hongkongs. (Foto: Reuters)

Drei Grad plus: In Hongkong ist das Thermometer auf den niedrigsten Wert seit Jahrzehnten gefallen. Schulen schließen, die Medien reagieren hysterisch. Warum?

Von Kai Strittmatter

Alles eine Frage der Perspektive. Nicht nur die New Yorker versanken in Schnee und Eis, auch große Teile Asiens wurden die letzten Tage von bitterer Kälte überrollt. Peking erstarrte zu einer Eis-Skulptur. Feuerwehrleute aus der zentralchinesischen Stadt Zhengzhou berichteten, wie ihnen beim Löschen eines Kaufhausbrandes das Wasser in den Schläuchen gefror. Selbst auf der südlichen Insel Taiwan schneite es, Ärzte berichteten dort von 52 Todesfällen, die sie auf die Kälte zurückführten.

Wenn man aber die Schlagzeilen der Lokalpresse las, konnte man den Eindruck bekommen, der Frost sei nirgendwo mit solcher Urgewalt eingezogen wie in Hongkong. Die Stadt feierte am Wochenende den größten Temperatursturz seit fast sechs Jahrzehnten. Und parallel dazu die wahrscheinlich größte kollektive Hysterie seit Ankunft der Briten 1842. Nein, geschneit hat es nicht, aber das Thermometer fiel am Sonntag doch tatsächlich auf sage und schreibe drei Grad. Plus.

Den Hongkongern reichte das für Rund-um-die-Uhr-Live-Berichterstattung über einen binnen kurzem legendären "Polarwirbel", in dessen Klauen sie ihre Stadt wähnten. Die besorgte Regierung beschloss kurzerhand, am Montag alle Kindergärten und Grundschulen zu schließen - bei Temperaturen zwischen vier und elf Grad. Vier der fünf meistgelesenen Artikel auf der Website der South China Morning Post am Montag widmeten sich der als so empfundenen Naturkatastrophe. Die Titel: "Polarwirbel trifft Hongkong", "Hongkong zittert", "Riesen-Temperatursturz" und "Arbeitende Eltern bringen Kinder trotz Eiseskälte in die Schule".

Nochmals zur Erinnerung: Die tiefste gemessene Temperatur im Stadtgebiet betrug 3,3 Grad plus. Gut, die Hongkonger sind Subtropisches gewöhnt. Aber das? Lokale Fernsehsender wie Cable TV schwärmten aus, um die Opfer des Eises aufzuspüren, und fanden jenen jungen Mann, der sich wie viele andere auf den Tai-Mo-Berg gewagt hatte, mit knapp 900 Metern Hongkongs höchste Erhebung, und der den schaudernden Zuschauern dann aus der Eishölle zu berichten wusste: "Es ist kalt, meine Füße sind schon taub". Der Gerechtigkeit halber sei berichtet, dass am Ende tatsächlich 64 Menschen im Krankenhaus landeten. Manche wegen Unterkühlung, andere, weil sie auf den Berg gestiegen waren, um auf den Straßen Eisrutschen zu gehen und dann wild durcheinander purzelten. Das "Chaos" (so die Hongkong Free Press) war perfekt, als sich Rettungswagen auf den Weg zu den Verletzten machten und manche der Retter dann selbst gerettet werden mussten. Es war nämlich, wie gesagt, ganz schön rutschig. Den besten Kommentar zum Geschehen aber gab Twitter-Nutzer "Hongkong Hermit" ab: "Der Beweis, dass die britischen Einflüsse in Hongkong noch stark sind: Temperaturen knapp über Null, und der ganze Ort fällt auseinander."

© SZ vom 26.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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