Holocaust-Gedenktag:"Da ist mir richtig kalt geworden"

Die Schülerin Natascha Kastner über die Schwierigkeiten, in einer schwäbischen Stadt der Nazi-Vergangenheit nachzuspüren.

Thorsten Denkler

Natascha Kastner (20) besucht das Fritz-Erler-Wirtschaftsgymnasium in Pforzheim. Für das Zeitungsprojekt "Weiße Flecken" der Initiative Step21 hat sie gemeinsam mit anderen Schülern in einem Nachbardorf die Geschichte eines Konzentrationslagers nachrecherchiert, über das Menschen dort nie groß Worte verloren haben.

Holocaust-Gedenktag: Natascha Kastner.

Natascha Kastner.

(Foto: Foto: Privat)

sueddeutsche.de: Frau Kastner, auf welche Schwierigkeiten sind sie und ihre Gruppe gestoßen, als sie angefangen haben, in der NS-Vergangenheit von Vaihingen zu graben?

Natascha Kastner: Das größte Problem ist zunächst, dass damals über Verbrechen und das KZ in der Nachbarschaft des Ortes nichts in den Zeitungen stand. Selbst heute wird das Thema eher im Kleinen gehalten. Wenn man sich dann ein wenig Mühe macht, findet man die Gedenkstätte, die auf den Fundamenten des KZ errichtet wurde.

sueddeutsche.de: Haben Sie sich mal auf der Straße umgehört, was die Menschen in Vaihingen über Ihre Recherchen denken?

Kastner: So direkt nicht, aber unserer betreuende Lehrerin ist etwas passiert, was wirklich erschreckend war. Sie hat sich auf dem Weg zur Gedenkstätte wohl verfahren und musste nach dem Weg fragen. Die Leute müssten ja wissen, wo das ist. Aber erst der fünfte oder sechste konnte ihr wirklich weiterhelfen. Alle anderen wussten nicht mal, dass es die Gedenkstätte überhaupt gibt.

sueddeutsche.de: Sie haben auch mit einer Zeitzeugin sprechen können. Konnte die einordnen, wie das KZ Wiesengrund damals das Leben in Vaihingen beeinflusst hat?

Kastner: Sie hat erzählt, die Leute seinerzeit hätten gedacht, und das gilt wohl auch noch heute: Was der Staat macht, das geht einen nichts an. Darum hat sich auch niemand um das KZ gekümmert. Es hat wohl auch niemanden wirklich interessiert.

sueddeutsche.de: Konnte es das KZ gegeben haben, ohne dass die Bewohner von Vaihingen etwas darüber gewusst haben?

Kastner: Ich würde sagen: Nein. Die Leute waren ja rund um die Gemeinde als Zwangsarbeiter eingesetzt, auch auf den Feldern. Das KZ ist ja hauptsächlich errichtet worden, um dort Zwangsarbeiter für eine unterirdische Flugzeugfabrik unterzubringen. Für den Bau der Fabrik, die nie fertiggestellt wurde, sind viele Handwerker aus der Umgebung angeworben worden. Die jeden Tag mit den Häftlingen zu tun hatten. Ich denke, es ist eine glatte Lüge, wenn jemand sagt, er hätte nichts von dem KZ gewusst.

sueddeutsche.de: Gab es einen Moment in der Recherche, bei dem Sie sich wirklich erschrocken haben?

Kastner: Wir sind auf einen Zeitzeugenbericht gestoßen, in dem die Zustände im Lager beschrieben werden. Der Mann hat beschrieben, wie die Leute gestorben sind auf ihren Strohsäcken und wie dann die Toten einfach beiseite geschoben wurden, damit der Strohsack wieder frei wurde für einen anderen. Das fand ich wirklich furchtbar. Oder das alles voller Läuse war, die Vorstellung fand ich unerträglich. Da ist mir richtig kalt geworden. Ich kann diese Unmenschlichkeit überhaupt nicht verstehen.

sueddeutsche.de: Ist es für Sie heute vorstellbar, dass so etwas ganz in Ihrer Nähe passiert ist?

Kastner: Das ist sehr, sehr schwer. Vor allem die Vorstellung, dass sich niemand darum gekümmert hat. Die Mutter unserer Zeitzeugin hat immerhin im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Menschen geholfen. Aber dass die Mehrheit einfach mal wegschaut, das beschäftigt mich jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke.

sueddeutsche.de: Wie wirkt vor diesem Hintergrund das von Ihnen beschriebene heutige Desinteresse auf Sie?

Kastner: Das pure Desinteresse auch an der Politik hilft am Ende den Rechten, die nur hohle Versprechungen machen. Die Leute denken gar nicht mehr darüber nach, ob das alles überhaupt realisierbar ist, den Natürlich glaube ich dann so einem schneller. Das ist eine Gefahr.

sueddeutsche.de: Hat Ihre Sorge einen konkreten Hintergrund?

Kastner: Ich mache mir Sorgen um ein neues Aufkommen des Rechtsradikalismus. Das habe ich auch in einem Kommentar für unser Projekt geschrieben. Den Rechten, die die Vergangenheit glorifizieren wollen, denen muss man sagen: Da gibt es nichts zu glorifizieren.

sueddeutsche.de: Ihr Projekt nennt sich "Weiße Flecken". Haben Sie den Eindruck, diesem weißen Flecken in Vaihingen etwas mehr Schwärze gegeben zu haben?

Kastner: Ja, ich denke schon. Zumindest für gilt das für mich und mein Umfeld.

sueddeutsche.de: Als das KZ errichtet wurde, hat es im damaligen Amtsblatt nur den Hinweis gegeben, dass für die Umgebung dort der Zutritt gesperrt ist. Wie ist denn Ihr Projekt in den lokalen Medien aufgenommen worden? Sie waren vergangenen Montag mit Step21 immerhin bei der Bundeskanzlerin zu Gast.

Kastner: In Vaihingen gar nicht. Ich kann aber nicht sagen, ob sie das nicht interessiert oder sie gar nichts davon gewusst haben. Berichtet wurde bisher nur in Pforzheimer Zeitung. Da liegt ja auch unsere Schule.

sueddeutsche.de: Ist die denn zuständig für Vaihingen?

Kastner: Nein. Überhaupt nicht.

sueddeutsche.de: Haben Sie den Eindruck, es wird wieder mehr weggeguckt?

Kastner: Irgendwie schon. Es wird zu wenig ernst genommen, wenn Rechte auf den Straßen unterwegs sind. Ich weiß nicht, ob das generell so ist. Aber mir kommt es so vor.

Der Text zum Interview ist entstanden im Rahmen des Projektes "Weiße Flecken" der Organisation "Step21 - Initiative für Toleranz und Verantwortung". Für das Projekt haben Schülergruppen aus Deutschland, Polen und Tschechien Geschichten aus der NS-Zeit gefunden und aufgeschrieben, die in ihren Heimatgemeinden von der damaligen Presse totgeschwiegen oder falsch dargestellt wurden. Die zugehörige Zeitung kann über die Homepage von Step 21 bestellt werden.

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