Hintergrund:Prozess gegen das Unfassbare

Viele Belgier zweifeln daran, dass die Justiz die Hintergründe der Mädchenmorde vollständig aufklären wird.

Von Cornelia Bolesch

Ihre Gesichter sind den Belgiern so vertraut, als gehörten die sechs Mädchen zur eigenen Familie. Was Julie, Melissa, An, Eefje, Sabine und Laetitia in der Gewalt des Psychopaten Marc Dutroux erleiden mussten, das hat sich in die kollektive Erinnerung des ganzen Landes eingebrannt.

Hintergrund: Blumen und Fotos der Opfer vor dem Haus des mutmaßlichen Kindermörders Dutroux in Sars-la-Buissiere.

Blumen und Fotos der Opfer vor dem Haus des mutmaßlichen Kindermörders Dutroux in Sars-la-Buissiere.

(Foto: Foto: dpa)

Doch zur Einstimmung auf den Prozess, der acht Jahre nach den schrecklichen Taten an diesem Montag in der Ardennen-Stadt Arlon beginnt, wird in den belgischen Medien alles wieder lebendig: Mit noch mehr Einzelheiten und Auszügen aus den Verhör-Protokollen. Etliche Redaktionen konnten sich die drei Video-Discs beschaffen, auf denen das ganze Horror-Dossier gespeichert ist.

Unbändige kriminelle Energie

Die Akte Dutroux dokumentiert auf nicht weniger als 450.000 Seiten die unbändige kriminelle Energie eines arbeitslosen Elektrikers, Autodiebs und Betrügers in der unwirtlichen Industriestadt Charleroi.

Mit Marc Dutroux vor Gericht stehen seine ihm hörige Frau Michelle Martin, der drogensüchtige Michel Lelièvre und der schillernde Finanzbetrüger und "Immobilienberater" Michel Nihoul aus Brüssel. Als einziger der vier leugnet er jegliche Verstrickung in die Entführungen. Zwölf Männer und Frauen aus dem belgischen Volk werden als Geschworene über Schuld und Unschuld auch dieses Angeklagten befinden.

Ein schäbiges Haus

Noch einmal wird man sich in Arlon erinnern müssen, wie sechs Mädchen aus ganz Belgien 1995 und 1996 einfach von der Straße weggefangen und nach Charleroi geschleppt werden - in ein schäbiges Haus direkt an den Bahngeleisen im südlichen Stadtteil Marcinelle.

Das Haus gehört Marc Dutroux, der bereits als notorischer Mädchenentführer und Vergewaltiger vorbestraft ist. Zwei der Opfer, die 12-jährige Sabine und die 14-jährige Laetitia können dort am 15. August 1996 aus einem teuflisch konstruierten Keller-Versteck befreit werden. Für die beiden Achtjährigen Julie und Melissa, für die 19-jährige Eefje und die 17 Jahre alte An aber kommt jede Hilfe zu spät.

Ihre zugrunde gerichteten, abgemagerten Körper werden wenig später tot geborgen - Julie und Melissa im Grundstück eines weiteren Hauses, das Dutroux gehört. An und Eefje im Garten einer Hütte, die von Bernard Weinstein bewohnt wurde, einem mit Dutroux bekannten vorbestraften Kriminellen aus Frankreich. Auch Weinsteins Leiche wird entdeckt - und Dutroux gibt zu, ihn ermordet zu haben.

Staatskrise in Belgien

Der Fall hat in Belgien eine Staatskrise ausgelöst. Fassungslosigkeit machte sich breit, nicht nur über die Grausamkeit der Taten, sondern auch über die stümperhafte Arbeit der Sicherheitsbehörden. Der Polizei war es nicht gelungen, Dutroux rechtzeitig das Handwerk zu legen, obwohl er die ganze Zeit observiert worden war und bereits kurz nach der Entführung von Julie und Melissa als Verdächtiger galt. Auch die Tatsache, dass es acht Jahre gedauert hat, bis endlich der Prozess beginnt, hat das Vertrauen der Belgier in ihre Justiz nicht gestärkt. "Möglicherweise haben die Ermittler vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen", meint der frühere christdemokratische Justizminister Stefaan de Clerck.

Für die beiden Elternpaare der ermordeten Mädchen Julie und Melissa ist das späte Gerichtsverfahren ohnehin nur eine "Farce". Sie wollen dem Prozess fernbleiben. Denn immer noch kann die Justiz den Angehörigen dieser beiden Mädchen keine präzise Antwort geben, wer ihre Kinder entführt hat und was genau mit ihnen geschehen ist.

Verhungert und verdurstet

Zwar besteht kein Zweifel daran, dass Julie und Melissa in Marc Dutroux's Haus gefangen waren. Doch der Angeklagte leugnet, sie entführt und vergewaltigt zu haben. Man habe sie ihm "gebracht", so lautet Dutroux's Version. Auch für ihren Tod will er unmittelbar nicht verantwortlich sein.

Höchstwahrscheinlich sind Julie und Melissa in seinem Keller verhungert und verdurstet, weil niemand sie versorgte, als Dutroux einige Monate wegen eines Autodiebstahls im Gefängnis saß. Dutroux besteht darauf: Er habe keines der Mädchen getötet.

Er hat die Entführungen von An, Eefje, Sabine und Laetitia gestanden und die Vergewaltigungen von Sabine und Laetitia. An habe er nicht angerührt und Eefje, behauptete Dutroux, habe freiwillig mit ihm geschlafen. Den einzigen Mord, den er zugibt, ist der an seinem Mitwisser Bernard Weinstein. Er hat den Mann betäubt und lebendig begraben.

Doch damit ist die Anklageschrift bei weitem nicht zu Ende. So muss sich Marc Dutroux in Arlon auch wegen der Vergewaltigung von drei Mädchen verantworten, die er bei einem Aufenthalt in der Slowakei in sein Haus locken konnte.

Es geht auch um die Freiheitsberaubung weiterer Jugendlicher, um Diebstahl, Drogenhandel, Handel mit falschen Dokumenten. Ein Gericht allein wird mit dieser kriminellen Explosion gar nicht mehr fertig. So hat man einen Teil der Taten abgetrennt. Wenn der Prozess in Arlon zu Ende ist, wird sich Dutroux zusammen mit sieben weiteren Personen wegen Autodiebstählen und Hehlerei verantworten müssen.

Kindheit voller Kälte

Wie konnte aus dem Baby Marc Paul Alain Dutroux, das vor 47 Jahren im Brüsseler Stadtteil Ixelles geboren wurde, das "Monster von Marcinelle" werden?

Die belgischen Medien haben auch in der Kindheit von Dutroux gegraben. Sie haben kein soziales Nirwana entdeckt, sondern eine kleinbürgerliche Familie, in der oberflächlich alles in Ordnung war. Beide Eltern arbeiteten als Volksschullehrer. Doch die Recherchen förderten eine Kindheit voller Kälte und subtiler Grausamkeit ans Licht.

Ein psychisch gestörter Bruder beging Selbstmord. Die anderen drei Geschwister haben ihren Namen ändern lassen. Vater Dutroux hat das Unglück seines Sohnes ausgeschlachtet und ein Buch über ihn verfasst. Die Mutter gibt ausführliche Interviews - doch auch sie kann nicht erklären, wie ein Mensch tickt, der zwei kleine Mädchen verhungern lässt und den Eltern danach bei einem Gerichtstermin erklärt: "Der Tod von Julie und Melissa ist die schlimmste aller Tragödien, die mir widerfahren sind."

Es sind nicht nur die Abgründe in Dutroux selbst - der ganze Kriminalfall birgt noch viele dunkle Ecken. Die wichtigste Frage ist für viele Belgier noch gar nicht beantwortet: Hat Dutroux zusammen mit seinen bekannten Mittätern die Mädchen zum eigenen morbiden Vergnügen entführt? Oder sind die Entführungen, die Autodiebstähle, der Drogenschmuggel und die gefälschten Dokumente nur Teile eines größeren kriminellen Netzwerks, das weite Teile der belgischen Gesellschaft durchzieht?

"Gläubige und "Nicht-Gläubige"

Die Spekulation darüber hat die Belgier in "Gläubige und "Nicht-Gläubige" gespalten. Als der erste Untersuchungsrichter Jean-Marc Connerotte kurz nach der Festnahme von Dutroux alle Belgier aufforderte, alles, was sie über einschlägige Verbrechen an Kindern wüssten, mitzuteilen, brach eine Lawine von Informationen, aber auch Denunziationen über die Ermittler herein.

Darunter waren auch Aussagen von mehreren jungen Frauen, die Unglaubliches zu Protokoll gaben: Sie wüssten von Sex-Parties in den frühen achtziger Jahren in den besten Kreisen, auf denen Kinder gefoltert und getötet worden seien. Auch Nihoul und Dutroux habe man gesehen. Bücher kursierten, in denen auch der jetzige belgische König Albert II. als Besucher von Sex-Parties genannt wird.

Der Streit über die wahren Dimensionen des Falls Dutroux hat auch den langjährigen Ermittlungsrichter und den Staatsanwalt entzweit. Ankläger Michel Bourlet glaubt an ein größeres Netzwerk, Richter Jacques Langlois hält das für ein Hirngespinst.

Schließlich sprach das oberste Gericht in Lüttich ein Machtwort: Der Prozess in Arlon bleibt auf Dutroux und drei weitere Tatverdächtige beschränkt. Für alle weiteren Spuren hat man eine eigene Untersuchungsakte angelegt. Hier geht es um 6000 Haare und weitere DNA-Spuren, die in Dutroux's Häusern und Autos eingesammelt wurden. Ein Bruchteil dieses Materials wurde bisher untersucht. Man hat offenbar auch Blut-und Sperma-Spuren einiger Unbekannter entdeckt.

Dutroux's Rechtsanwalt Xavier Magnée kommentiert es so: "Ich weiß nicht, ob der Prozess gegen Dutroux unter diesen Umständen überhaupt geführt werden kann. Das 6000. Haar könnte doch vom Justizminister, vom Kardinal oder vom Garagisten um die Ecke stammen. Gibt man der Öffentlichkeit jetzt nicht einen Piranha im Aquarium, während die Haie noch im Ozean schwimmen?"

Für die Anhänger der Netzwerk-Theorie steht in Arlon vor allem ein Mann im Scheinwerferlicht: der Geschäftemacher und Finanzbetrüger Michel Nihoul. Lange hatte der Ex-Ehemann einer Anwältin eine Anklage abwehren können. Er habe Dutroux und Co. nur am Rande gekannt, sei im übrigen Informant der Gendarmerie in Dinant gewesen und habe mit den Entführungen nichts zu tun, dabei bleibt er bis heute.

Ist Nihoul aber vielleicht doch das "Scharnier", das die Taten des Marc Dutroux mit Aufträgen unbekannter Hintermänner koppelt? Bereits in zehn Wochen will das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Stéphane Goux die Plädoyers aufrufen. Die meisten Belgier haben ihr Urteil schon gesprochen. Laut einer aktuellen Umfrage der Zeitung La Dernière Heure wünschen sich 66 Prozent die Todesstrafe für Marc Dutroux.

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