Heiner Geißler im Gespräch:"Man muss vor Menschen keine Angst haben"

Der Querdenker aus Union über Panik, Todesangst, die "German Disease" und den EU-Beitritt der Türkei.

Von Karl Forster

SZ am Wochenende: Herr Geißler, haben Sie heute schon Angst gehabt? Geißler: Nein.

Heiner Geißler, AP

Heiner Geißler

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SZW: Im Flieger vielleicht? Geißler: Nein, als Gleitschirmflieger ist man einiges gewohnt.

SZW: Auch keine Angst um Deutschland, wo doch Ihre Parteikollegin Merkel gerne verkündet, dass jedes heute geborene Kind 16.000 Euro Schulden mitbekommt auf den Lebensweg? Geißler: Das ist auch nicht mehr als in vergleichbaren Ländern. Dafür kann das Kind gute Schulen und Universitäten besuchen, die damit bezahlt wurden.

SZW: Aber diese Botschaft macht vielen Menschen Angst. Geißler: Ja, wenn sie das selbstständige Denken verlernen, dann bekommen sie Angst. Es gibt ja viele Ängste. Es gab mal die Raketen-Angst, es gab die Russen-Angst, die Lebensangst, oder, sehr aktuell: Fremdenangst. Die Todesangst ist allgemein verbreitet. Weil der Tod demokratisch ist. Von hundert Leuten sterben hundert.

SZW: Wobei die Todesangst unterschiedlich stark ist, je nach Lebensanschauung und Religion. Geißler: Richtig. Epikur sagte ja, man brauche da überhaupt keine Angst zu haben. Wenn man lebt, ist man noch nicht tot. Und wenn man tot ist, merkt man nichts mehr.

SZW: Ihre Lebensschule ist geprägt von den Jesuiten. Die sagen: hinterher geht es weiter. Geißler: Wer das glaubt, ist gut dran.

SZW: Wie geht es da Ihnen? Sie haben mehrere lebensgefährliche Situationen erfahren. Zum Beispiel beim Gleitschirmfliegen oder beim Bergsteigen. Geißler: Todesangst hatte ich nie. Ich hatte ohnehin selten Angst. Weil ich es in der Politik so gemacht habe wie beim Bergsteigen. Ich bin nie an die Grenze gegangen. Es war noch immer eine Reserve da. Ich habe mich nie im Gebirge von Fremden retten lassen müssen, obwohl ich in wirklich schwierigen Situationen gewesen bin. Das war in der Politik auch so.

SZW: Und wie war das damals an der Grande Casse, in der großen Wand, als sie mit ihrem Sohn Dominik in massive Schwierigkeiten gekommen sind?

Geißler: Auch da habe ich die Angst nicht richtig hochkommen lassen, weil sie einen unfähig macht, richtig zu reagieren. Angst führt zu Fehlentscheidungen.

SZW: Was ist damals passiert? Geißler: Beim Abstieg hat Dominik in der Steilwand das linke Steigeisen verloren. Man konnte nicht sichern, weil das Eis zu porös war. Keine Eisschraube hat gegriffen. Das Anseilen hatte also keinen Sinn. Deswegen musste ich Stufen schlagen. Da darf keine Panik aufkommen. Die nächste Stufe der Angst ist ja die Panik.

SZW: Sie hatten wahrscheinlich mehr Angst um Ihren Sohn als um sich. Geißler: Ich hab damals überlegt, ob ich, wenn er abstürzt, nicht gleich hinterher springe.

SZW: Hatten Sie auch in der Politik immer diese Reserve? Dieses "wenn es sein muss, geht noch mehr"? Zum Beispiel damals, als sie die SPD mit der Fünften Kolonne Moskaus verglichen haben? Geißler: Ich habe ja nicht einen Menschen angegriffen, sondern die SPD. Die haben damals ein außenpolitisches Programm entworfen, das in acht Punkten identisch mit dem war, was Gromyko (damals Außenminister der UdSSR, d. Red.) deutschlandpolitisch und europapolitisch acht Tage vorher in Madrid erzählt hatte. Da hab ich gesagt, wenn die so weiter machen, werden sie in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zur fünften Kolonne Moskaus.

SZW: Das hat gesessen. Geißler: Jedenfalls haben sie im Parlament einen Misstrauensantrag gegen mich gestellt.

SZW: Gab es irgendwann einmal für Sie in der Politik eine ähnlich dramatische Situation wie damals an der Grande Casse? Geißler: Nein. Schauen Sie, ich habe mir eines abgewöhnt: Angst vor Menschen. Man muss vor Menschen keine Angst haben.

SZW: Auch wenn sie böse sind? Geißler: Auch dann. Sonst wird man eingeschüchtert und verliert seine Selbstständigkeit.

SZW: Aber es ist doch verständlich, dass Menschen Angst haben, deren Zukunft lange Zeit ungefährdet schien und denen nun die Arbeitslosigkeit droht. Sie haben Angst vor dem Shareholder-Value-Denken der Konzerne, Angst um den Job. Geißler: Ja. Aber es gibt heute vor allem eine Angst vor den politischen Eliten, die offenbar unfähig sind, den nötigen Veränderungsprozess human zu gestalten. Die Parole, jeder solle für sich selber sorgen, macht denen Angst, die das gar nicht können, das sind Millionen. Sie fürchten den Verlust der Solidarität.

SZW: Derzeit geistert ein Wort durchs Land: "German Disease". Liegt die Ursache dieser Krankheit darin, dass Ängste zu einer nationalen Befindlichkeit wachsen? Geißler: Das ist ein Schlagwort der internationalen Anarcho-Ökonomen. Wodurch wird die Angst denn produziert? Die Arbeiter von Opel oder Aventis warten auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen, der sie in die Arbeitslosigkeit befördert - und mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der Sozialleiter, in die Arbeitslosigkeit II. Dies geschieht, weil der Staat keine Kontrolle mehr ausübt über die ökonomische Macht. Solange der Nationalstaat jener Raum war, in der sich die Ökonomie entwickelt hat, hat das funktioniert.

SZW: Na ja, bedingt. Geißler: Nein, das hat schon funktioniert! Durch Kartellgesetzgebung, durch Bankenaufsicht, Mitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz und so weiter. Die Politik hat die Macht des Geldes kontrolliert. Jetzt spielen die Nationalstaaten keine Rolle mehr. So bricht sich jetzt der Machtwille, man kann auch sagen, die Gier nach Geld, Bahn. Die macht sich selbstständig und geht über Leichen. Deswegen haben die Leute Angst.

SZW: Gibt es da einen Schuldigen? Geißler: Natürlich: die Politiker und Ökonomen, die vor lauter shareholder value die Menschen vergessen.

"Man muss vor Menschen keine Angst haben"

SZW: Vielleicht sitzen auf Seiten der Wirtschaft einfach die clevereren Leute. Geißler: Das ist keine Entschuldigung, eher ein vernichtendes Urteil über die Politik. Wir haben auf der globalen Ebene in der Ökonomie keine Ordnung. Kein Gesetz, kein Recht, keine Regel. Von dieser globalen Ökonomie mit einem täglichen Börsenumsatz von zwei Billionen Dollar partizipieren die multinationalen Konzerne und die Spekulanten genauso wie Drogendealer, Mafia und Terroristen. Und der kleine Mann steht auf der Straße.

SZW: Sehen Sie Menschen, die in der Lage sind, eine neue Ordnung zu schaffen? Geißler: Ja natürlich. Ich kann mir eine internationale soziale Marktwirtschaft vorstellen. Wenn die Staaten oder deren Politiker dies wollen. Aber ohne Kampf geht da nichts, kann man die Angst nicht besiegen. Aber man muss zunächst mal herausfinden, wo die Ursache der Angst sitzt. Das Bewusstsein der Verantwortlichen ist noch nicht so weit, dass sie kapieren, dass der Kapitalismus genauso falsch ist wie der Kommunismus.

SZW: Werden solche Ängste nicht bewusst geschürt? Gehört das nicht zum Spiel der Mächtigen? Geißler: Ja, man kann dann die Menschen, wie früher mit der Sündenangst, besser verdummen und manipulieren, heute zum Beispiel mit der Fremdenangst.

SZW: Gehört hierzu auch der Parteitagsbeschluss der CSU, die Türkei nicht in die EU aufzunehmen? Geißler: Ach, da war wieder mal die Rede von der deutschen Leitkultur. Ich glaube, davor haben nun eher die Muslime Angst. Zumindest vor der bayerischen Leitkultur. Aber das ist natürlich ein nicht erlaubtes Spiel mit den Ängsten.

SZW: Und solche Ängste werden von manchen Politikern missbraucht. Geißler: In der Ausländerpolitik sind vor allem von früheren Regierungen massive Fehler gemacht worden, und zwar durch die Verdrängung der Realität, vor allem unter Helmut Kohl. Man hat nicht erkannt, dass wir ein Einwanderungsland sind. Man hat geglaubt, es handle sich bei diesen Leuten um "Gäste", wie Alfred Dregger und andere immer wieder gesagt haben. Aber diese Leute sind keine Gäste, sondern bleiben auf Dauer bei uns.

SZW: Ist es wirklich möglich, eine Gesellschaft ohne Angst zu schaffen? Nehmen Sie eine Schulklasse, oder eine Pfadfindergruppe. Es wird immer einen geben, der zum Gruppenleiter wird. Mit all den bekannten Auswüchsen. Geißler: Wir brauchen natürlich eine Ordnung. Aristoteles sagt: Politik ist nichts anderes als das Bemühen, das geordnete Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Ich muss ja zuerst mal wissen, was richtig ist. Dazu brauche ich geistige Führung. Aber es muss eben eine kontrollierte Führung sein. Und der Parlamentarismus zeichnet sich - als Ergebnis einer langen Menschheitserfahrung - durch zwei Elemente aus: dass die Macht auf Zeit vergeben und die Auseinandersetzung nicht mit dem Faustkeil, sondern mit den Waffen des Geistes geführt wird. Diese beiden Elemente der Demokratie sind geeignet, Angst zu beseitigen.

SZW: Das funktioniert mal so, mal so. Geißler: Richtig. Wenn es nicht funktioniert, machen die handelnden Personen der Demokratie Fehler, dann sind sie nicht loyal gegenüber denen, die sie gewählt haben. Und ihnen fehlt, was Churchill als die wichtigste Eigenschaft in der Politik bezeichnet hat: Mut. Sie haben keine Zivilcourage. Sie geben sich zufrieden, mit dem was ist. Angst ist auch ein Produkt der Bequemlichkeit.

"Man muss vor Menschen keine Angst haben"

SZW: Aber es wird doch überall auf der Welt mit dem Instrument Angst Politik gemacht. Bush hat seine Wahl gewonnen, weil die Amis Angst hatten, sie könnten andernfalls den Krieg verlieren. Bei uns wird in jeder Bundestagsdebatte die Angst davor provoziert, dass die jeweils anderen "es nicht können". Und auch das System der Kirchen funktioniert mit der Angst, man könne gegen eines der zehn Gebote verstoßen. Geißler: Die Menschheit könnte gut ohne Angst leben. Nur die Mächtigen nicht, die brauchen sie. Auch die großen Weltreligionen leben mit und von der Angst, mit Ausnahme des Buddhismus. In den christlichen Kirchen hat man dazu durch falsche Übersetzung sogar die eigentliche Botschaft verfälscht. Zum Beispiel bei der angstmacherischen Parole: "Tut Buße!" Im Urtext heißt es "meta noeite". Das heißt nichts anderes als: "Denkt um!"

SZW: Das ist jetzt aber auch nicht der Urtext, das ist ja Griechisch. Geißler: Es gibt nur den griechischen Urtext. Erst der Kirchenlehrer Hieronymos hat im vierten Jahrhundert daraus gemacht: "poenitentiam agite", "tut Buße". Das ist die bewusste, theologisch begründete Falschübersetzung. Seit dieser Zeit sind Generationen von Christen auf die falsche Schiene gesetzt worden, sie laufen schuldbewusst, sündenbeladen, gesenkten Hauptes durch die Gegend, angeführt von vom Sündenwahn besessenen Theologen, die ihnen predigen, sie müssten permanent ein schlechtes Gewissen haben. So ist der Christenalltag, so sind sogar die Kirchenlieder aufgebaut: "Aus tiefer Sündennot errette mich, o Herr". Ich kann nicht akzeptieren, dass ich ständig zum Sünder gestempelt werde.

SZW: Es gibt aber Sünden, die auch in der profanen Welt geahndet werden. Geißler: Klar, es gibt große Sünden, die Verbrechen. Aber das sind nicht die Sünden der kleinen Leute. Man hat vor allem ein Verhalten des Menschen zur eigentlichen Sünde erklärt: das Sexualverhalten. Und das ist ein besonders wirksames Machtinstrument, weil die Sexualnormen der Kirche ja kein Mensch einhalten kann. Das geht von der Onanie bis zu den jeweiligen sexuellen Praktiken innerhalb der Ehe - die die Kirche aber gar nichts angehen.

SZW: In einigen amerikanischen Bundesstaaten werden die auch noch bestraft. Geißler: Klar, Cunnilingus und Fellatio. Man darf doch keine Normen festlegen, von denen man weiß, dass sie gar nicht eingehalten werden können. Oder was Ratzinger und Buttiglione jetzt wieder über Homosexualität gesagt haben. Da setzen sie Millionen Menschen auf die Anklagebank. Jeder soll so glauben, er stünde mit einem Bein mindestens im Fegefeuer. Die heilige Botschaft wird verfälscht. Das Evangelium ist, dies sagt schon der Name "eu angelion", eine "frohe Botschaft". Im Lauf der Kirchengeschichte ist daraus eine Bußpredigt geworden.

SZW: In Ihrer nächsten politischen Nähe agierte ein Mann, der überaus starke Lust an der Macht hatte. 1989 schrieb die FAZ in einem Kommentar, dass dieser Mann Angst vor Ihnen hatte und sie deswegen kalt gestellt hatte. War es so? Geißler: Ja, ich glaube, er hatte Angst. Aber seine Angst war unbegründet und wurde dadurch irrational. Begründeter Angst allerdings muss man den Boden entziehen: unkontrollierte Machtausübung, Diktatur, Missbrauch der Macht. Die Angst ist in der Natur des Menschen angelegt. Und der Fortschritt der Zivilisation liegt darin, dass wir ein System gefunden haben, in dem diese Ängste beseitigt werden können: die Demokratie.

Heiner Geißler, am 3. März 1930 in Oberndorf am Necker geboren, gilt als einer der profiliertesten CDU-Politiker. 1967 wurde Heiner Geißler Sozialminister in Rheinland-Pfalz, blieb dies zehn Jahre lang und schockierte seine Parteigenossen damals schon mit revolutionären sozialpolitischen Ideen. 1977 setzte Bundeskanzler Helmut Kohl Geißler als Generalsekretär der CDU durch, wo er seinem Ruf als "Terrier" alle Ehre machte. 1989 von Kohl kaltgestellt, schärft der leidenschaftliche Bergsteiger und (bis zu seinem Unfall) begeisterte Gleitschirmflieger Geißler sein Profil als Sozialpolitiker bis heute. Er ist verheiratet, hat drei Söhne und lebt in Gleisweiler an der Südlichen Weinstraße, wo er auch seinen Wein "Gleisweiler Hölle" anbaut.

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