Harry Potter:Die Magie der Gene

Ein englischer Professor fragt sich, ob er sich per Gentherapie in einen Zauberer verwandeln könnte.

(SZ vom 7.11.2003) - Tausende deutscher Harry-Potter-Fans fiebern dem morgigen Samstag entgegen, wenn der fünfte Roman um den jungen Zauberer auf Deutsch erscheint. Auch ich konnte es vor einigen Wochen kaum erwarten, das englische Original in die Finger zu bekommen. Und ich fragte mich wie oft zuvor: Warum bin ich ein trauriger Muggel und kein strahlender Zauberer? Welches ungerechte Schicksal verteilt diese Gabe?

Harry Potter

Magier oder Muggel - wie ein zusätzliches Geschlecht neben männlich oder weiblich.

(Foto: Foto: AP)

Muggels sind, wie wir alle wissen, Menschen ohne magische Kräfte. Hexen und Zauberer hingegen können Flüche aussprechen, Zaubertränke brauen, sich selbst in Tiere verwandeln und auf Besen fliegen. Ihre Kinder besuchen keine ordinäre Schule, sondern das Hogwarts-Internat für Hexerei und Zauberkunst.

Als ich so in meinem Londoner Labor auf und ab ging, begann ich mich zu fragen, ob ich als Molekularbiologe meine Enttäuschung über mein Schicksal nicht mit den Methoden meiner Zunft bekämpfen könnte. Sollte ich es wagen, mich selbst in einen Zauberer zu verwandeln? Oder wenigstens durch genetische Manipulation ein Zauberer- oder Hexenbaby erzeugen? Doch bevor man in der Wissenschaft irgendein Experiment beginnt - noch dazu ein so gewagtes -, braucht man eine Hypothese, die sich testen lässt.

Die schwierige Identifizierung magischer Gene

Wir müssen daher zunächst die vorhandenen Beweise prüfen, um zu verstehen, wie Zauber- und Hexenkunst genetisch entstehen. Offensichtlich bedarf es vieler Gene, um die fabelhaften Gaben von Harry, seinen Freunden und Gegnern zu erklären. Daher erscheint es zunächst als überwältigende Aufgabe, all die magischen Gene zu identifizieren - es wäre genauso schwierig, die Erbanlagen zu kartieren, die einen begnadeten Musiker, Tänzer, Dichter, Athleten oder Wissenschaftler ausmachen.

Aber müssen wir denn wirklich all diese Gene finden?, fragte ich mich dann. Die Antwort steht im zweiten Band der Reihe, "Harry Potter und die Kammer des Schreckens": Hier wird ein geheimnisvolles Verließ geöffnet, und eine riesige Schlange macht Jagd auf "Schlammblüter", also auf junge Zauberer und Hexen, die von Muggel-Eltern abstammen. Offenbar können also zwei Nicht-Magier ein Kind mit magischen Fähigkeiten zeugen. Tatsächlich hat Harrys Freundin Hermine Muggel-Eltern, genau wie Harrys Mutter. Bekommen dagegen zwei Magier Nachwuchs, besitzt das Kind fast immer ihre Gaben.

Magier oder Muggel als zusätzliches Geschlecht

Genetiker erkennen in dieser Vererbung ein Muster. Offenbar gibt es ein einziges "Magie"-Gen, das einen Schalter zwischen Muggel und Magier umlegt. Die Natur kennt dafür ein prominentes Beispiel: das Geschlecht. Wenn nichts passiert, wird jedes Baby ein Mädchen, aber ein einziges Gen auf dem Y-Chromosom schaltet das Geschlecht auf männlich um. Danach werden viele andere Männlichkeitsgene aktiv, die zum Beispiel für Penis und Hoden sorgen, während die Weiblichkeitsgene für Gebärmutter und Eierstöcke stumm bleiben. Aber jeder von uns besitzt alle nötigen Gene für beide Geschlechter.

Genau wie Männer und Frauen viel gemeinsam haben, sind sich Muggels und Magier sehr ähnlich. Auch manche von uns sind mutig wie Harry, intelligent wie Hermine, weise wie Albus Dumbledore, der Direktor von Hogwarts, oder bösartig und verschlagen wie Draco Malfoy, Harrys Feind. Es ist tatsächlich so, als wäre Magier oder Muggel ein zusätzliches Geschlecht neben männlich oder weiblich.

Der Schlüssel zur Hexerei

Aber wie genau funktioniert dieser Schalter? Gene gibt es in verschiedenen Varianten, die Allele genannt werden. Manche von ihnen sind dominant, andere rezessiv. Das zeigt sich schon bei der Augenfarbe: Wenn in den Erbanlagen der Mutter das Allel für braune Augen steckt, der Vater aber blaue Augen vererbt, dann bekommt das Kind braune Augen, weil braun dominant ist, blau aber rezessiv.

Zeugt dieses Kind dann mit einem braunäugigen Partner einen Enkel, kann der trotzdem blaue Augen haben, wenn seine Eltern jeweils ein rezessives blaues Allel besitzen, das sie zufällig beide weitergeben. Genau das muss bei Hermine passiert sein: Beide Eltern haben ein rezessives Magie-Allel und beide haben es dem Mädchen vererbt, sonst wäre es keine Hexe.

Es scheint paradox, dass eine so machtvolle Eigenschaft wie Magie von einem rezessiven Allel abhängen soll, aber man kann sich den Mechanismus gut vorstellen. Wie beim Hauptschalter für das männliche Geschlecht könnte das Magie-Allel den Bauplan für ein Protein enthalten, das in einen Rezeptor passt wie der Schlüssel in ein Schloss. Dieser Rezeptor wiederum öffnet den Weg zum Hexen- und Zaubererdasein. Aus dem Muggel-Allel hingegen dürfte ein Protein entstehen, das den Rezeptor verklebt wie Kaugummi ein Türschloss.

Seltenes magisches Allel

Populationsgenetiker rechnen gern aus, wie häufig bestimmte Allele in einer Bevölkerung vertreten sind. Wir können einmal versuchen, die Frequenz des Magie-Allels auf den britischen Inseln zu bestimmen. Da eine Schule, Hogwarts, ausreicht, alle jungen Hexen und Zauberer von elf bis achtzehn Jahren auszubilden, kann eigentlich nur eines von zehntausend Babys die magische Gabe besitzen.

Das heißt, das magische Allel hat eine Häufigkeit von einem Prozent, während die Muggel-Variante 99 Prozent ausmacht. Die Chance, dass zufällig zwei Besitzer der magischen Gen-Variante zusammentreffen, beträgt dann ein Hundertstel mal ein Hundertstel, also ein Zehntausendstel.

Ein komplexes Repertoire von Gaben, das neben dem Hauptschalter eine Vielzahl spezielle Gene braucht, kann sich aber kaum in einer kleinen Minderheit entwickelt haben. Kein Prozess der Evolution könnte das erklären. Wir müssen also folgern, dass Hexen und Zauberer früher viel häufiger waren, ja, dass alle unsere fernen Ahnen die magischen Gaben besaßen. Wir heutigen Muggels sind die traurigen Nachfahren einer magischen Rasse!

Genetische Flüche

Genetiker wie ich stehen nun vor einem Rätsel: Wie konnte ein mutantes Muggel-Allel entstehen und sich derart durchsetzen? Welche Kraft der evolutionären Selektion hat den Mutant bevorzugt und den so genannten Wildtyp fast ausgerottet? Sind Muggels fruchtbarer? Widerstandsfähiger gegen Krankheiten? Beides erscheint unwahrscheinlich. Vielleicht haben Hexen und Zauberer in einem Krieg vor langer Zeit genetische Flüche ausgestoßen, die die Kinder des Feindes zu Muggels machte. Das bleibt ein Rätsel.

Aber aus dieser Analyse ergibt sich eine faszinierende Hypothese: Wir Muggels besitzen das volle genetische Repertoire, um Magier zu sein. Wir könnten also lernen, den Hauptschalter zu betätigen und unser verlorenes Erbe anzutreten. Erwachsene können sich wohl nicht viel Hoffnung machen, aber mit einem Eingriff in die Entwicklung des Embryos ließen sich alle Magiergene aktivieren.

Um dieses große Ziel zu verwirklichen, dürfen wir nicht zimperlich sein. Auf der Basis meiner Erkenntnisse über die Genetik der Magie suche ich daher jetzt nach Risikokapital für eine Biotechfirma: MagicoGene Therapeutics. Mein Unternehmen wird das Magie-Allel im menschlichen Genom finden und klonieren. Und dann verfolgen wir zwei Strategien, um unser verlorenes genetisches Erbe freizulegen: zum einen mit einer Keimbahn-Gentherapie, zum anderen mit Magico-Pharmaka.

Magische Designer-Babys

Beim ersten Ansatz werden wir durch genetische Manipulation in männlichen Samen- und weiblichen Eizellen das dominante Muggel-Allel durch das Magie-Allel austauschen, bevor wir aus den Zellen magische Designer-Babys zeugen. Während wir auf die Zustimmung der zuständigen Behörden warten, bieten wir der breiten Öffentlichkeit einen Gentest an, um diejenigen Muggels zu finden, die ein rezessives Magie-Allel besitzen.

Für die Träger gründen wir eine Online-Partneragentur, denn sie haben eine Eins-zu-drei-Chance, auf natürlichem Weg eine Hexe oder einen Zauberer zu zeugen. Mit modernen Methoden der Fortpflanzungsmedizin ließe sich die Chance, dass ein kleiner Magier geboren wird, sogar auf 100 Prozent steigern - was für ein Fortschritt gegenüber 1 zu 10000!

Magie-Medikamente für Muggels

Unser zweites Geschäftsfeld wären Medikamente. Sie könnten sowohl die Funktion des Proteins nachahmen, dessen Bauplan im Magie-Allel steckt, als auch die Kaugummi-Sperre des Muggel-Allels brechen. Ich persönlich hoffe, dass die Mittel uns armen Muggels einen Hauch der magischen Gaben zurückgeben, die uns vorenthalten geblieben sind.

MagicoGene Therapeutics sucht zurzeit nach Freiwilligen, die entweder genetische Designer-Hexen oder -Zauberer bekommen wollen, oder bereit sind, an klinischen Medikamententests teilzunehmen.

Conrad Lichtenstein leitet das Department for Molecular Biology am Queen Mary College der Universität London und forscht dort an genmanipulierten Pflanzen. Deutsche Bearbeitung: Christopher Schrader

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