Hannover:47 Seiten Abscheu

Tod nach Fenstersturz aus Amtsgericht

Hameln im Januar 2015: Die Polizei sichert das Krankenhaus, weil es nach der Todesnachricht zu Tumulten kam.

(Foto: Ulrich Behmann-Dwz/dpa)

Zwei Jahre ist es her, dass Mohamed S. bei einem Fluchtversuch aus dem Gefängnis vor den Augen seiner Familie in den Tod stürzte. Die steht nun vor Gericht, weil damals die Gewalt eskaliert sein soll.

Von Peter Burghardt, Hannover

Dieser ganz und gar ungewöhnliche Strafprozess um Ausschreitungen nach einem Todessturz begann gerade erst, da erhob der Richter am Landgericht Hannover das Wort. Er habe in seinem Amt schon die eine oder andere Erfahrung gemacht, sagte Stefan Joseph. Aber dieser Fall sei so tragisch, dass ihm der Atem stockte, als er die Ermittlungsakten las. Mutter oder Bruder hätten erleben müssen, wie ihr Sohn oder Bruder gestorben sei. Was diese Tragik für die Familie bedeute, "ist uns klar", sagte Joseph. "Klar ist aber auch, dass es im Nachgang zu bestimmten Vorkommnissen gekommen ist. Deshalb sitzen wir hier." Und deshalb gebe es auch diese Sicherheitsverfügung.

Mehrere Mannschaftswagen der Polizei standen am Montagmorgen vor dem Justizgebäude, Besucher wurden streng kontrolliert. Im Schwurgerichtssaal 127 wachten 13 Beamte wie in einer Festung, einige von ihnen haben die Statur eines Türstehers. Im Zuschauerraum verloren sich zwar außer zahlreichen Reportern dann nur zwei stille Gäste, als es mit den sechs deutschen und libanesischen Angeklagten losging. Doch die Behörden gingen auf Nummer sicher. Damals, als Mohamed S. starb, verwandelte sich Trauer in Gewalt.

Am 13. Januar 2015 wurde der 26 Jahre alte Mohamed S. in Hameln verhaftet und in die dortige Polizeiinspektion gebracht, er soll eine Tankstelle überfallen haben. Noch vor der Wache versuchte Ibrahim S. laut der Staatsanwaltschaft, seinen Bruder aus dem Streifenwagen zu befreien, was misslang. Als am folgenden Nachmittag dann der Haftrichter am Hamelner Amtsgericht den Beschuldigten sehen wollte, versammelten sich draußen zornige Angehörige. Das Unheil nahm seinen Lauf. Während einer Besprechung mit seinem Anwalt entkam Mohamed S. durch ein Fenster im 7. Stock, er war als Fassadenkletterer bekannt. Doch der Flüchtende verlor den Halt und stürzte ab. Vor seinen Verwandten lag er auf dem Boden, im Krankenhaus erlag er seinen Verletzungen. Noch vor dem Gericht soll sein wutentbrannter Clan Polizisten und Rettungskräfte attackiert haben. Vor der Klinik scheinen mittlerweile ungefähr 30 Menschen aus der Umgebung des Toten dann endgültig die Kontrolle verloren zu haben.

Es flogen Steine, einer hatte dem Vernehmen nach Tränengas mitgebracht

Beamte sollen beleidigt worden sein, bedroht, geschlagen, getreten, bespuckt. Laut Anklageschrift fielen Worte wie "Hurensöhne", "Nazis", "Hitlersöhne", "beschissene Bullen", "alte Schlampe" und Sätze wie "Ich zünd' euch an, ihr Schweine." Es flogen Steine, einer hatte dem Vernehmen nach Tränengas mitgebracht. Die Mutter des toten Mohamed S. soll den Polizisten unterstellt haben, diese hätten ihren Sohn in die Tiefe gestoßen ("ich habe das genau gesehen"), sie drohte anscheinend offen Rache an. Einen ihrer Söhne soll sie aufgefordert haben, einen Hauptkommissar anzugreifen: "Er muss sterben!" 24 Polizisten und sechs Unbeteiligte wurden verletzt, der Eingang des Hospitals wurde erheblich beschädigt. Die Szenen von Zorn und Zerstörung machten bundesweit die Runde.

Nun, gut zwei Jahre später, sitzen also sechs Angeklagte vor der Strafkammer des Landgerichts Hannover, dort statt in Hameln wird nach langen Ermittlungen verhandelt. Es sind Khadra S., die Mutter des verstorbenen Mohamed S., eine schwarz gekleidete, gebückte Frau, die älter aussieht, als ihr Jahrgang 1967 vermuten ließe, und fünf Söhne oder Cousins. Sie heißen Ibrahim S., Omar S., Bashir S., Tarek F. und Abdel-Kader S., geboren in Deutschland oder wie Khadra S. in Libanon. Vorgeworfen werden ihnen schwere Delikte wie Anstiftung zu Straftaten, Morddrohungen, gefährliche Körperverletzung, Landfriedensbruch und Beleidigung. Die Staatsanwaltschaft wies auf ihren 47 Seiten mehrfach darauf hin, wie groß der Abscheu gegenüber der Staatsgewalt gewesen sei. 31 Verhandlungstage waren angesetzt. Doch es dürfte deutlich rascher gehen.

Schon die Einführung des Richters klang erheblich sanfter als die lange Liste der Vorwürfe. Bald sah es so aus, als könnte sich das Gericht in Absprache mit Anklägern, Verteidigern und Mandanten auf vergleichsweise gütige Urteile verständigen. Im Falle von Schuldgeständnissen haben die Angeklagten gute Chancen, mit Bewährungsstrafen davonzukommen. Vier von ihnen waren bereits früher mit dem Gesetz in Konflikt geraten, zwei andere nicht. Sie alle gehören zur Volksgruppe der libanesisch-stämmigen Mhallamiye-Kurden, mit manchen von ihnen gibt es in Niedersachsen und auch anderswo immer wieder Probleme. Was in dieser konkreten Sache aber nicht zu Sippenhaft führen dürfe, wie einer der Anwälte findet.

Die Richter müssen abwägen zwischen Schuld und Sühne, dem Schutz der Staatsmacht und Milde für eine Familie, der laut Verteidigung inzwischen alles leidtut. Khadra S., die einen Sohn verloren hat und einen Polizisten töten lassen wollte, ging gebeugt aus dem Gericht, gestützt auf einen anderen Sohn.

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