Haiti nach dem Erdbeben:Im Epizentrum der Hilfe

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Wo Ärzte mit Taschenmessern amputieren und im Chaos Kinder zur Welt kommen - ein Besuch in Léogane, wo das Beben am schwersten wütete.

Peter Burghardt

Als die Schlacht für Deutschlands Nächstenliebe in Haitis Provinz geschlagen ist, da sinken die kanadischen Krieger zu Boden. Sie keuchen und schwitzen in ihren Uniformen wie Boxer nach zwölf Runden im Ring, was an 32 Grad im Schatten einer Ruine und der stechenden Sonne der Karibik liegt, vor allem aber an vier Stunden Kampf.

Neues Leben in Haiti: Mütter bringen ihre Kinder in Behelfskrankenhäusern zur Welt. (Foto: Foto: dpa)

Die Kompanie A aus dem 3. Bataillon des 22. Royale Regiment aus Quebec hatte gerade die Verteilung von 2000 Kisten mit Mehl, Reis, Bohnen, Zucker und Pflanzenöl aus deutschen Spenden überwacht, am Schuttberg einer eingestürzten Kirche in Léogane.

Solche Aktionen sind angesichts ausgehungerter Massen überall schwierig, seit die Hilfe nach dem Erdbeben endlich in Gang kommt. "Da ist einiges zu tun", untertreibt der Major Frederick Pruneau, der auch schon in Afghanistan im Einsatz gewesen ist. Besonders kompliziert wird es am Rande des Epizentrums.

Léogane liegt 40 Kilometer westlich von Port-au-Prince, man folgt dorthin einer Spur der Zerstörung. Einige Kilometer nach Carrefours ziehen sich tiefe Risse durch die Straße. Der Asphalt bäumte sich auf dieser Etappe auf wie eine Welle, als am 12. Januar fast eine Minute lang atombombenstarke Stöße aus der Tiefe kamen.

Seismologen haben berechnet, dass die Erschütterungen in dieser Gegend begonnen hatten. Sie trafen mit voller Wucht die Stadt Léogane mit ihren 120.000 Einwohnern, wie ein Tsunami ohne Wasser. Hier brachen fast alle Häuser zusammen, viele waren schon von der Hurrikan-Serie 2008 angeschlagen.

Tausende Menschen starben, sie sind Teil jener vorläufig 111.000 bis 150.000 Toten, von denen die Regierung derzeit spricht. Die Überlebenden bekamen tagelang kaum einen Helfer zu Gesicht, doch inzwischen hat die Weltoperation Haiti auch Léogane erreicht.

Alles läuft aus dem Ruder

Die Gesandten Berlins haben sich für ihren Start die Reste des Gotteshauses Saint Rose de Lima im zerbröselten Zentrum am Marktplatz ausgesucht. Hinter dem Steinhügel unter dem zersplitterten Mittelschiff bringt die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) Zehn-Tages-Rationen unters Volk, begleitet von katholischer Gemeinde, Vertretern der Botschaft, Hilfsorganisationen und Soldaten.

Die einen tragen blaue Helme, sind von kleiner Statur und gehören zum UN-Kontingent Sri Lankas. Sie sprechen weder Französisch noch Englisch. Die anderen sind aus dem französischen Teil Kanadas eingeflogen, als auch Ottawa und Washington Truppen in Bewegung setzten. Sie sind die Rettung, als alles aus dem Ruder zu laufen droht.

Erst ist in der Hektik der Schlüssel des 40-Fuß-Containers von Hamburg-Süd verschollen, nachdem der Sattelschlepper in Position rangiert worden war. Dann ging das verklemmte Schloss doch noch auf. Die Massen drängten unterdessen dermaßen, dass die kanadischen Aufpasser allzu fordernde Haitianer brüllend zurück schubsten. Brasilianer gaben anderntags in Port-au-Prince sogar Warnschüsse ab und warfen Tränengas, auch Argentinier verschafften sich mit einer Kugel in den blauen Himmel Respekt. Den Kanadiern reicht Muskelkraft.

Auch mit ihrem Beistand eröffnet Deutschlands Helferheer im darbenden Léogane einen Stützpunkt jenseits der Hauptstadt. Allemagne ist Teil einer multinationalen Mission, bei der manche Helfer an ihre Wurzeln zurückkehrten.

Im kanadischen Krankenlager ein paar Betonhaufen weiter steht Leutnant Meiz Majdoub neben Armeezelten und einer verwüsteten Schule. Er kam mit der Fregatte HMCS Athabaskan aus Halifax. Waffensystemtechniker Majdoub ist zum ersten Mal in Haiti, der Heimat seiner Mutter. "Ich würde sagen, ich tue das für meine Mam", sagt der Sohn eines libanesischen Ghanaers, er spricht perfekt Französisch und leidlich Kreolisch.

Hinter ihm wimmert ein Schwerverletzter auf einer Bahre. "Dieses Land ist zerstört, die Leute können sich nicht selbst ernähren", sagt der Halbhaitianer. Auf Facebook informierte er seine Bekannten von der Reise in den Süden, viele baten ihn, er möge nach vermissten Verwandten Ausschau halten. Er selbst sucht Cousins, hatte aber noch keine Zeit, ebenso wie Sulott Amilcea.

Die dunkelhäutige Krankenschwester begeht im improvisierten Sanitätsfeld der Gemeinschaft "Deutschland hilft" am Ortsausgang ihre unverhoffte Rückkehr. Frau Amilcea wanderte vor 20 Jahren in die USA aus und pflegt gewöhnlich Krebspatienten in Miami, trägt aber nun ein Leibchen des Malteser Hilfsdienstes in Léogane, wo sie 1965 geboren wurde.

Amputation mit dem Leatherman

Die Malteser kamen auf die gute Idee, auch Aktivisten mit Nähe zum Einsatzort mitzunehmen. Sulott Amilcea war sechs Jahre nicht mehr in der Heimat, sie traf im globalisierten Katastrophenteam auf ein Trümmerfeld. "Meine alte Schule ist kaputt, meine Kirche, unser Haus", sagt sie, vom Tod eines Neffen weiß sie, von den anderen weiß sie nichts.

Sie alle tun, was sie können, unter abenteuerlichsten Umständen. Der Anästhesist Thomas Geiner von den Münchner Flughafenärzten Navis erzählt, wie Chirurgen mangels Sägen mit Leatherman-Messern amputierten, vielen fehlt auch Morphium. Helmut Schühle vom Johanniter Notdienst säubert Verletzungen, die sich bei viel Hitze und wenig Hygiene schnell entzünden.

Der argentinische Internist Fernando Paz wiederum kam direkt von der Rallye Dakar aus der argentinischen Pampa in diese Notfallriege, eine Herkules brachte ihn aus Buenos Aires nach Haiti. Vom Rennarzt eines PS-Spektakels zum Notarzt einer Tragödie, über Nacht. Und der amerikanische Kardiologe Armando García stammt aus Kuba, er schwärmt: "Wie schön, dass eine Katastrophe so viele Nationen zusammen führt."

Die 2000 Kartons bei der Lebensmittelausgabe sind schließlich nach Rangeleien verteilt. "Suboptimal", findet Volker Pellet, der deutsche Ersatzbotschafter. "Schlecht organisiert", schimpft ein junger Mann mit Sonnenschirm. Er ging leer aus, hielt aber Distanz.

Er will Bauingenieur werden, Bauingenieure braucht Haiti, doch seine Uni sank zusammen, sein Elternhaus, Freunde und Verwandte starben. "Kein schönes Bild von unserem Land", sagt er auf dem Schuttberg der Kirche. "Wir dürfen nicht resignieren", erste Märkte für Obst und Gemüse funktionieren wieder, manche Leute lachen und singen. Doch er will weg, "in die USA, vielleicht krieg' ich ein Visum", weg aus Léogane mit seinen Rissen in Boden und Wänden, von den Schlangen vor den Hilfsgütern zu den Schlangen vor der US-Botschaft.

© SZ vom 25.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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