Haiti nach dem Erdbeben:Auf der Tribüne

In einem ehemaligen Fußballstadion in Port-au-Prince hausen heute 20.000 Obdachlose. Ausländische Organisationen helfen, doch von den Spendengeldern ist nichts in Sicht.

Peter Burghardt, Port-au-Prince

Fred Tottenham: Kein schlechter Name für einen, der in diesen Wochen viel Zeit auf einem Fußballfeld verbringt. Doch der Sozialarbeiter Tottenham kommt aus Dublin und mag von dem gleichnamigen Fußballclub aus London nichts wissen, vor allem aber hat sein Einsatzgebiet mit einer Sportanlage nicht mehr viel zu tun. Auch dieses Stadion im Viertel Delmas 2 von Port-au-Prince wurde nach dem Beben vom 12. Januar über Nacht zum Lager der Obdachlosen.

Haiti, Erdbeben, AFP

Ein Kind mit dem Hab und Gut der Familie im Stadion von Port-au-Prince.

(Foto: Foto: AFP)

Mehr als eine Million Einwohner der haitianischen Hauptstadt haben bei den Erdstößen vor vier Monaten ihre Häuser verloren oder trauen sich nicht mehr hinein. Ungefähr 20.000 von ihnen leben seither neben und zwischen Betontribünen, wo vorher Tore standen und der Ball rollte.

Gäbe es nicht Leute wie diesen jungen Iren, dann wäre das alles noch viel schlimmer.

Die irische Organisation Concern Worldwide versucht, in dieser elenden Arena neben der halb zerstörten Schule der Heilsarmee wenigstens die nötigste Hygiene zu gewährleisten. Das ist kompliziert genug, das Terrain zählt zu den ärmsten und gefährlichsten der kaputten Kapitale. Überlebende hausen hier in einem Gewirr aus Plastikplanen, Sperrholz, Wellblech und Pappe, sie reichen bis über die Ränge fast bis zur Kloake neben der Straße. Viele Menschen, wenig Platz.

Concern hat neben der stinkenden Latrine ein paar Toilettenhäuschen postiert, außerdem mobile Duschen und Babyzelte für Mütter mit Kleinkindern. Zahnpasta, Seife und Kondome werden verteilt. Welthungerhilfe und Technisches Hilfswerk kümmern sich um Trinkwasser, andere bringen Lebensmittel. "Das macht einen großen Unterschied", sagt Fred Tottenham, zuhause Energieberater für Heizungssysteme. Irgendwie wollen sie in diesem Ghetto an ehemaligen Strafräumen und Elfmeterpunkten jetzt auch den drohenden Regengüssen und Wirbelstürmen trotzen.

Wenn sich der karibische Himmel öffnet, verwandelt sich das einstige Spielfeld binnen Stunden zu Matsch. Dann läuft eine dreckige Soße in die Verschläge der Familien, Kinder waten barfuß durch den Schlamm. Moskitos vermehren sich, verbreiten Denguefieber und Malaria. Tottenhams Team gräbt Abflussrinnen, Freiwillige in den grünen T-Shirts anderer Solidargemeinschaften packen Müll in Tonnen und verteilen den Schutt zerbröselter Mauern. Dafür gibt es 200 Gourdes am Tag. Fünf US-Dollar. "Cash for Work" nennt sich das Programm von Vereinten Nationen, Regierung und Verbänden, die Tausende sonst arbeitsloser Haitianer beschäftigen.

Es sind Tagelöhner wie Osmand Geamealle, seine Unterkunft in dem Stadtteil nebenan ist eingestürzt und hat die Tochter seiner Freundin erschlagen, eine von 250 000 Toten. Geamealle steht mit orangefarbenem Reggaehemd und Strickmütze zwischen Ruinen und einigermaßen stabilen Bauwerken von Delmas 2 vor dem Stadion, das mittlerweile auch sein Wohnort ist. An den Wänden prangt ein Porträt von US-Präsident Barack Obama und des früheren Staatschefs Jean-Bertrand Aristide, den vertriebenen Aristide mag das Volk hier lieber als Nachfolger René Préval. "Wir erleben unseren schlechtesten Moment", sagt Geamealle, "wir brauchen noch viel mehr Hilfe, wir brauchen alles."

Wo seien die versprochenen zehn Milliarden Spendendollar? Immerhin gefällt ihm sein Job bei Concern, Trümmer wegräumen oder Wasser verteilen. Den Lohn geben Tottenham und seine Kollegen samstags aus - in Briefumschlägen und nach Überfällen versteckt in einem Kellerzimmer. Mangels festem Dach schläft dann auch Osmand Geamealle drüben in der Zeltstadt.

Abends patrouillieren manchmal Soldaten der UN-Friedenstruppe, ehe es dunkel wird. Strom gibt es keinen. In ungemütlichen Ecken wie dieser drehen gewöhnlich Brasilianer ihre Runde, deren Blauhelm-Träger gelten als besonders zupackend. Delmas 2 ist ja einerseits eine nachbarschaftliche Gemeinde und andererseits Gangland, beherrscht von Banden. Die meisten Anführer waren zwar verhaftet oder erschossen worden, doch bei dem Beben fiel auch das Gefängnis in sich zusammen, überlebende Schwerverbrecher entkamen.

Dabei wird Brasilien auch hier vor allem als Fußballnation verehrt. 2004 hatte die brasilianische Auswahl Haiti in Port-au-Prince freundschaftlich 6:0 besiegt, Ronaldo und Ronaldinho zieren auch heute noch bunte Sammeltaxis, die sogenannten Tap Taps. Für Interessenten gab es damals ein verlockendes Angebot: Wer seine Waffe abgab, der bekam eine Eintrittskarte, mehr als 20.000 Zuschauer fanden sich ein.

Unterdessen sind Haitis Stadien also Flüchtlingscamps, die Auffangstationen außerhalb der Hauptstadt werden erst zögerlich fertig und reichen nicht annähernd. Fred Tottenham war für Concern vorher auch mal in Mosambik tätig, seine deutsche Chefin Elke Leidel kommt aus Liberia. Bald fliegt er heim nach Irland, aber er sagt: "Das hier ist ein großartiger Platz, um zu helfen." Nebenan spielt ein halbnackter Bub mit einem Kondom, aufgeblasen zum Luftballon.

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