Haiti nach dem Beben:Verloren in Gottes Hand

Sie leben zwischen Leichen und warten auf Hilfe: Die Geduld der Menschen in Port-au-Prince geht zur Neige. Die Verzweifelten der Geisterstadt suchen Zuflucht im Gebet.

Peter Burghardt, Port-au-Prince

Rue des Miracles, der Name klang schon irreführend, als Port-au-Prince schon bettelarm, aber noch lebendig war. An der Kreuzung mit der Rue du Centre verfielen die Läden, die Juweliere und Modemacher aus besseren Zeiten hatten das modrige Zentrum längst verlassen, die Straßenhändler waren eingezogen.

AP; Haiti, Trauer, Beten, Port-au-Prince, Erdbeben

Die Menschen beten inbrünstig, um die Hoffnung auf das Überleben von Angehörigen nicht sterben zu lassen: Szene vor der zusammengefallenen Kathedrale in Port-au-Prince

(Foto: Foto: AP)

In diesem heruntergekommenen Teil von Haitis Hauptstadt stand auch der historische Eisenmarkt, an dem Bananen verkauft wurden, Seife, Rum, bunte Bilder, leuchtende Voodoo-Fahnen. Rue des Miracles, Straße der Wunder. Jetzt ist es eine Straße des Verderbens. Dieser Bezirk hinter der ebenfalls zerstörten Kathedrale fiel komplett in sich zusammen, als am 12. Januar die Erde bebte.

Es sieht aus wie nach einem Bombardement. Wo sich vorher die Menschen drängten, qualmen jetzt die Ruinen einer Geisterstadt. Die wenigen Passanten wirken wie Gespenster. Wenn es hier Wunder gibt, dann das, dass Altagrace Nazé noch laufen kann.

"Gott hat mich gerettet"

Sie schlurft in Badeschlappen zwischen zerfetzten Mauern und umgekippten Ständen aus Holz, hängenden Reklameschildern und baumelnden Kabeln. Ihren Weg säumt links eine armlose Schaufensterpuppe, die aussieht wie eine Tote. Rechts liegt eine verkohlte Leiche im Schuttberg. Ein schwarzer Knochenarm zeigt grotesk in den Himmel, an dem ein Militärhubschrauber kreist.

Altagrace Nazé trägt ein blaues T-Shirt über dem türkis karierten Rock und ein geblümtes Handtäschchen. Eine junge Frau von 22 Jahren mit dunklen Augen und ängstlichem Blick. "Gott hat mich gerettet", sagt sie leise, als sich fremde Reporter ihr nähern wie einem scheuen Reh. Rechts in die Rue du Centre ging sie früher zur Arbeit. Jetzt sucht sie da hinten nach ihrer Vergangenheit.

Vor sieben Tagen stand diese 22 Jahre alte Mutter eines dreijährigen Sohnes in einem kleinen Geschäft für Altkleider. Der Boden begann unter ihren Füßen zu tanzen, irgendetwas fiel ihr auf den Kopf. Das war die Rettung, denn der Schlag ließ sie nach draußen taumeln und hinterließ bloß eine Schramme. Die Kolleginnen, die drin blieben, sind alle tot. Tausende müssen allein in dieser Zone des Totalverlusts verschüttet worden sein. Um sie herum brach die Welt zusammen, aber Altagrace Nazé, was für ein schöner Name, Altagrace Nazé also entkam auf wundersame Weise dieser Hölle an der Rue des Miracles und Rue du Centre.

Erinnerungen an die "Klapperschlange"

Jetzt kommt sie zurück an den Ort des Grauens, um zu schauen, ob da noch irgendwelche Klamotten zu finden sind, mit denen sich ein paar Gourdes machen lassen. Doch es gibt nur wenig Geld von diesen neugierigen Ausländern. Das, was übrig war, wurde längst geklaut.

Zurück blieben Einzelstücke, verstreute Halbschuhe aus Plastik in einem Stillleben des Horrors. Die Umgebung erinnert an John Carpenters Film "Die Klapperschlange", in dem ein Mann mit Augenklappe in eine amerikanische Totenstadt steigt. In einer Ecke brennt ein Feuer, an einer anderen wühlt jemand mit Händen im Abfall. Männer mit Tüchern vor dem Mund fahren mit Motorrädern vorbei, haitianische Polizisten rollen mit einem offenen Jeep hindurch.

Internationale Helfer oder Suchmannschaften mit Baggern und Spürhunden lassen sich nicht blicken. Altagrace Nazé hat bisher keinen einzigen Hilfstrupp gesehen. Auch nicht im Vorort Carrefour, wo die Erdstöße ihr sogenanntes Epizentrum hatten und wo ihr Mann starb. Dort ist alles noch schrecklicher als mitten in Port-au-Prince. Dort stapelt sich noch mehr Müll, dort leben sie und Zehntausende anderer auf der Straße und warten.

Die Welt will helfen, sie wird helfen, sie hat es versprochen. US-Außenministerin Hillary Clinton schaute am Samstag in Haiti vorbei, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon am Sonntag, Bill Clinton kündigte sich für Montag an. Ban besichtigte das demolierte Gebäude der UN-Mission Minustah, in dem sein Gesandter Hédi Annabi begraben wurde und 36 weitere UN-Mitarbeiter. Er sah den demolierten Präsidentenpalast, der täglich mehr in sich zusammensackt, nur wenige Ecken von hier entfernt. Er bat die geschätzt 3,5 Millionen Betroffenen um Geduld, doch die Geduld geht zur Neige. Es mehren sich handgeschriebene Schilder wie dieses: "Hilfe, wir brauchen Unterstützung, wir brauchen Lebensmittel und Wasser."

Chaotische Rumpftruppe

Von mehreren Orten werden Ausschreitungen gemeldet. Auf zwei Verteiler von Proviant aus der Dominikanischen Republik wurde geschossen. Auf dem schäbigen, stinkenden, überfüllten Friedhof liegen neben einem offenen Massengrab die Körper von zwei Männern und einer Frau, umkreist von Fliegen. Haitis Polizei, diese chaotische Rumpftruppe, soll sie gerade erschossen haben, heißt es, es handle sich um Ausbrecher aus dem zerborstenen Gefängnis. Diebe, Plünderer.

Ein anderer der vermeintlichen Delinquenten liegt sterbend in seinem Blut. Eine amerikanische Fotographin knipst, Neugierige schauen zu. An der eingestürzten Steuerbehörde rücken vermummte Spezialkräfte an. In dem Betonhaufen sollen drei Überlebende eingekeilt sein und ungezählte Tote, aber um die geht es offenbar weniger, mehr um das Bargeld, das in der ehemaligen Steuerbehörde vermutet wird.

Mancherorts patrouillieren UN-Blauhelme, und nun gehen auch die US-Marines in Stellung. 11.000 schickt Washington mit Kriegsschiffen und Flugzeugen, die alle paar Minuten starten und landen. Vor dem Krankenhaus, in das man zuvor noch hineinspazieren konnte, stehen jetzt US-Soldaten mit Schnellfeuergewehren und strengem Blick.

Altagrace Nazé geht weiter durch die Rue des Miracles. "Dieu qui donne", steht an einer zerrissenen Fassade eines Schuhgeschäfts. Gott, der gibt. Und Gott, der nimmt, auch an der Straße der Wunder in Port-au-Prince, Haiti.

Im Video: EU kündigt mehr als 400 Millionen Euro für Haiti-Hilfe an.

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