Gruppenvergewaltigungen in NRW:"Es geht darum, Dominanz durch sexuelle Aggression zu zelebrieren"

Umrisse einer Gruppe unbegleiteter junger Männer im Hauptbahnhof München Bayern Deutschland

Gruppen erzeugen oft eigene, parallele Normalitäten. (Symbolbild)

(Foto: imago/Ralph Peters)

Vergewaltigungen, geplant im Handy-Chat: Fünf junge Männer sollen gemeinsam minderjährige Mädchen missbraucht haben. Expertin Mithu Sanyal erklärt, wie eine Gruppendynamik entstehen kann, in der jedes Unrechtsbewusstsein verloren geht.

Interview von Anna Fischhaber

Eine Gruppe junger Männer zwischen 16 und 23 Jahren soll in Essen und Gelsenkirchen mindestens sechs minderjährige Mädchen vergewaltigt haben. Die Verdächtigen sollen die Gruppenvergewaltigungen per Handychat geplant haben. Die Opfer wurden einzeln in ein Auto gelockt und an einem abgelegenen Ort sexuell missbraucht. Die Polizei spricht von "besonders abscheulichen und brutalen Taten". Inzwischen sitzen vier der fünf Tatverdächtigen in Untersuchungshaft, ein 16-Jähriger ist aufgrund seines Alters noch auf freiem Fuß. Was bleibt ist die Frage, wie es dazu kommen konnte. Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Melanie Sanyal hat für ihr Buch "Vergewaltigung - Aspekte eines Verbrechens" zum Thema recherchiert.

SZ: Wie häufig kommt es in Deutschland zu Gruppenvergewaltigungen, Frau Sanyal?

Relativ selten. 2016 gab es laut Bundeskriminalamt 524 Fälle - bei insgesamt 7919 Fällen von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen. Deshalb war die Polizei wohl auch so überrascht: Sie hatte einen der mutmaßlichen Täter bereits festgenommen und der Rest zog offenbar noch am selben Abend los und hat sich erneut ein Opfer gesucht. Zudem waren die Taten detailliert vorher geplant, das ist natürlich krass. Und noch seltener. Das Klischee der Gruppenvergewaltigung ist eher die Collegeparty, auf der alle betrunken sind und dann die sexuellen Grenzen aus dem Affekt heraus überschritten werden.

Warum tun Menschen so etwas: Geht es um sexuelle Befriedigung oder um Macht?

Die Antworten der Forschung sind sehr unbefriedigend. Der US-Psychologe John Pryor hat immerhin mit einem Test herausgefunden, dass potentielle Täter ein paar Gemeinsamkeiten haben: Auffällig wenig Empathie, einen hohen Glauben an traditionelle Geschlechterbilder und einen hohen Glauben an Autoritäten. Macht spielt definitiv eine Rolle, allerdings meist weniger beim einzelnen Täter oder der Täterin, sondern in dem System, in dem man sich bewegt. In geschlossenen Systemen wie einem Gefängnis oder etwa dem Militär, wo Grenzverletzungen eine größere Rolle spielen, sind auch Vergewaltigungen signifikant häufiger.

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Die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal ist für ihr Buch "Vergewaltigung - Aspekte eines Verbrechens" der Frage nachgegangen, wie man Vergewaltigungen verhindern kann.

(Foto: imago/HMB-Media)

Ich denke eine Gruppenvergewaltigung wie in diesem Fall hat wenig mit sexueller Befriedigung und viel mit der Gruppendynamik zu tun. Es geht darum, Dominanz durch sexuelle Aggression zu zelebrieren oder überhaupt erst einmal herzustellen. Das erzeugt ein subjektives Gefühl von Kontrolle, ist objektiv aber sehr selbstzerstörerisch: Einer der mutmaßlichen Täter ist erst 16, kein Kind mehr, aber doch jemand, der noch eines besonderen Schutzes bedürfte.

Wie muss man sich eine solche Gruppendynamik vorstellen?

In der Regel gehen wir davon aus, dass es einen oder zwei Anführer in einer solchen Gruppe gibt. Das muss allerdings nicht so sein. In diesem Fall haben sich möglicherweise alle oder fast alle Verdächtigen an den Planungen und Vergewaltigungen beteiligt und nicht aufgehört, als einer festgenommen wurde. Einer der mutmaßlichen Täter soll einem der Opfer hinterher sogar seine Nummer gegeben haben. Hier fehlte offenbar jedes Unrechtsbewusstsein.

Wie kann es zu so etwas kommen?

Eine Gruppe erzeugt eine eigene, parallele Normalität. Die Mitglieder bestärken sich gegenseitig, das Richtige zu tun. Eine Gruppe funktioniert wie eine Echokammer im Internet: Wir posten unsere Meinung und dann gefällt das zehn Freunden. Wir finden Bestätigung und laufen Gefahr zu denken, die gesamte Welt würde das so sehen, wenn wir uns nur noch in unserer Bubble bewegen. Über Gruppenvergewaltigungen dieser Art weiß man noch wenig, aber andere Gruppen wurden natürlich schon erforscht: Gerade unter Jugendlichen ist es sehr wichtig, Werte zu teilen, und es ist oft ganz schwierig, diese dann in Frage zu stellen. Auch weil die Angst eine Rolle spielt, dann selbst zum Opfer zu werden. Ändert sich das Umfeld, dann ändern Aussteiger oft schnell die Meinung. Das weiß man etwa von ehemaligen Neonazis oder anderen radikalisierten Jugendlichen. Ein großer Teil der Werte entsteht also durch die Gruppendynamik und ist eben nicht notwendigerweise in der Persönlichkeit verankert.

Trotzdem bleibt die Frage: Was sind das für Menschen?

Wir wissen in diesem Fall fast nichts über die mutmaßlichen Vergewaltiger, da ist es schwierig zu spekulieren. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Menschen nicht zu Tätern werden, weil sie so viel Macht haben, sondern weil sie sich in ihrem Kern oft selbst machtlos fühlen. Beispielsweise weil sie in ihrer Kindheit gedemütigt wurden. Das soll keine Entschuldigung sein, aber vielleicht eine Erklärung. Und natürlich spielt auch das gesellschaftliche Umfeld, die gesellschaftliche Akzeptanz, eine Rolle. Wenn Krieg herrscht, steigt beispielsweise die Zahl der Vergewaltigungen - Opfer sind nicht nur Feinde, sondern auch eigene Kameraden. Oder nehmen Sie das Beispiel Weinstein: Das Phänomen Besetzungscouch galt lange Zeit als so etwas wie normal. Das macht die Sache natürlich nicht besser, ganz im Gegenteil.

Aber wo ist es normal, dass fünf Jungen ein Mädchen in ein Auto locken und gemeinsam vergewaltigen?

Nirgends auf der Welt. Und auch vor 20 Jahren war eine Gruppenvergewaltigung nicht gesellschaftlich akzeptiert. Hier muss etwas massiv schief gelaufen sein, die Taten haben fast psychopathische Züge. Zumal sich die mutmaßlichen Täter im Netz vorher verabredet haben, die Taten zu begehen und sich über ihre Opfer auch noch lustig gemacht haben. Ganz gezielt zu sagen: Los, lass uns vergewaltigen gehen. Das ist schon außergewöhnlich.

Die Taten in Essen und Gelsenkirchen geschahen offenbar im näheren sozialen Umfeld, nach bisherigen Erkenntnissen der Polizei kannten die jungen Frauen stets einen der mutmaßlichen Täter persönlich. Wie oft kommt das vor?

Die Dunkelziffer ist hoch, aber nach allem was wir wissen, gehen wir davon aus, dass sich 80 bis 90 Prozent der Vergewaltigungen im Nahbereich abspielen. Der Fremde hinter dem Baum ist viel, viel, viel seltener, als man glaubt. Durch die Metoo-Debatte ist gerade auch der Arbeitsplatz in den Fokus gerückt. Der Hauptteil der Vergewaltigungen findet allerdings nach wie vor in der eigenen Familie, im Freundeskreis oder bei Dates statt.

Wie kann man Vergewaltigungen verhindern?

Wir werden nie hundertprozentige Sicherheit haben, allerdings hat sich viel getan: Vergewaltigungen sind eines der ganz wenigen Verbrechen, bei denen man lange davon ausgegangen ist: Das Opfer trägt eine Mitschuld. Bis in die achtziger Jahre war es bei Gerichtsverhandlungen normal, die Frau zu fragen, was sie anhatte. Gerade verhandeln wir sexuelle Normen neu. Vergangenes Jahr ist das Sexualstrafrecht geändert worden, so dass Nein jetzt Nein heißt. Dieses Jahr ist mit der Istanbul Konvention Prävention obligatorisch geworden und die beste Form der Prävention ist feministische Selbstverteidigung. Früher hat man Frauen gesagt, sie sollten sich bei einer Vergewaltigung bloß nicht wehren - sonst tue ihnen der Täter noch mehr weh. Heute weiß man: Wenn man sich wehrt, steigt die Chance zu entkommen. Das gilt übrigens nicht nur bei Vergewaltigungen, sondern auch bei Sexismus im Alltag.

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