Großfahndung in Boston:Die Spur der Brüder Zarnajew

Dschochar Tamerlan Zarnajew Boston Marathon

Dschochar Zarnajew (l.) und sein Bruder Tamerlan auf einem Foto, das kurz vor der Explosion der Bombe aufgenommen wurde.

(Foto: REUTERS)

Sie trieben Sport und schienen ein lockeres Verhältnis zum Islam zu pflegen. Das legen die Spuren nahe, die Tamerlan und Dschochar Zarnajew im Netz hinterlassen haben. Woher der Hass der mutmaßlichen Täter auf die USA rührt, können sich die Ermittler noch nicht erklären. Hat ihre tschetschenische Herkunft damit zu tun?

Von Julian Hans, Nicolas Richter und Christian Wernicke

Sie wollten ihr Werk aus der Nähe betrachten, oder soll man sagen: genießen? Als die Bomben explodiert waren, verließen sie zielstrebig, aber ruhig den Tatort. Auf einem Film, der zunächst nur den Ermittlern vorlag, sieht man, wie die Zuschauer an der Zielgeraden des Bostoner Marathons flüchten, schreien oder selbstlos zu den Verletzten eilen. Die beiden Verdächtigen aber wirken auf den Bildern, als seien sie weder überrascht noch erschrocken noch schockiert. Offenbar haben sie gewusst, was sich ereignen würde. Vor allem deswegen sind sie den Ermittlern aufgefallen.

Es gibt auch Bilder von ihnen, wie sie vor dem Anschlag zum Tatort gehen; jeder trägt einen Rucksack. Waren dort die Bomben drin? Der Mann, der vorangeht, trägt eine schwarze Baseballmütze, wenige Meter hinter ihm geht sein Bruder, er trägt eine weiße Baseball-Mütze, umgekehrt, mit dem Schirm nach hinten.

Offenbar handelt es sich um Tamerlan Zarnajew, 26, und Dschochar Zarnajew, 19. Ihre Familie soll aus Tschetschenien stammen oder jedenfalls aus dem Kaukasus. Tschetschenien, ein überwiegend von Muslimen bevölkertes Gebiet im Süden Russlands, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zwei Kriege um Unabhängigkeit mit den Russen geliefert. Der Konflikt war die Ursache etlicher terroristischer Anschläge, die meist Russland trafen. Nach allem, was bekannt wurde, ist die Familie Anfang der Neunzigerjahre vor dem ersten Tschetschenienkrieg geflohen und hatte eine lange Odyssee durch mehrere ehemalige Sowjetrepubliken - Kirgisistan, Dagestan, Kasachstan - hinter sich, bevor die beiden vor zehn Jahren in die USA kamen.

Der naheliegende Schluss wäre, dass es sich bei den Brüdern um tschetschenische Terroristen handelt. Aber es ist zunächst nicht klar, ob ihre Motive überhaupt mit Tschetschenien zu tun haben, oder mit dem Islam. Hassen sie die USA einfach deswegen, weil gewaltbereite Islamisten immer die USA hassen?

Der jüngere der beiden soll die Schule Nummer eins in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala besucht haben, einer Republik im russischen Kaukasus. Der Sender Echo Moskau rief dort den ganzen Freitag über an, schließlich sagte die Sekretärin Irina Bandurina: "Niemand kann sich an ihn erinnern, Gott sei Dank. Er war ja gerade mal ein Jahr hier, dann ging er nach Amerika."

Unmittelbar nach dem Anschlag auf den Marathon in Boston haben sich die Ermittler gefragt, ob Islamisten oder ein radikaler Einzeltäter hinter der Tat stecken. Am Freitag nun wirkt das Profil von den Tätern wie eine gefährliche Kombination aus beidem: gebürtige Tschetschenen, die im Kaukasus mit der Gewalt aufgewachsen sind, sich aber erst in den USA zu Terroristen entwickelt haben.

"Keinen einzigen Amerikaner zum Freund"

Auf seiner Profilseite im sozialen Netzwerk Vkontakte, einem russischen Facebook-Klon, der mit 200 Millionen Nutzern Marktführer im russischsprachigen Raum ist, pflegt Dschochar Zarnajew einen eher lockeren Umgang mit dem Islam. Unter der Rubrik "Überzeugungen" hat er bei "Weltanschauung" eingetragen: "Islam", unter "persönliche Vorlieben" aber schreibt er "Karriere und Geld". Er ist Mitglied der Gruppen "Tschetschenen" und "Alles über die Republik Tschetschenien". Als Sprachen gibt er Englisch, Russisch und Tschetschenisch an.

Boston Marathon Anschlag Grafik

Die Schauplätze der Bombenanschläge von Boston.

(Foto: SZ Grafik)

Ein Account auf der Videoplattform Youtube, der auf den Namen von Dschochars älterem Bruder Tamerlan Zarnajew registriert ist, lässt vermuten, dass dieser bereits stärker mit dem radikalen Islam in Verbindung gekommen ist. Neben Clips des in Tschetschenien beliebten Sängers Timur Mutsuraev hat Zarnajew auch Videos unter den Rubriken "Terroristen" und "Islam" gesammelt. Darunter ist zum Beispiel ein Telefoninterview mit dem Salafisten Scheich Abdul-Chamid al-Dschuchani. Der Interviewer stellt sich als "Salafistenbruder aus Tschetschenien" vor. Dort sei "die gleiche Schlacht gegen die Muslime im Gange" wie in Syrien.

Tamerlan Zarnajew war den Behörden in Boston bereits vor drei Jahren aufgefallen. Laut einem Polizeibericht wurde der damals 22-Jährige im Juli 2009 festgenommen, weil er seine Freundin angegriffen haben soll.

Der US-Fotograf Johannes Hirn hat auf seiner Internet-Seite eine Porträtserie veröffentlicht, die er von dem Hobby-Boxer Tamerlan Zarnajew im "Wai Kru Mixed Martial Arts Center" gemacht hat. Die Fotos sind mit Zitaten von Zarnajew beschriftet. Unter anderem sagt dieser, der zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits seit fünf Jahren in den USA lebt: "Ich habe keinen einzigen Amerikaner zum Freund, ich verstehe sie einfach nicht." In einem Text heißt es, Tamerlan sei in den frühen Neunzigerjahren mit seiner Familie vor dem Konflikt aus Tschetschenien geflohen und habe danach mehrere Jahre in Kasachstan gelebt. Er zählt "Borat" zu seinen Lieblingsfilmen, "auch wenn einige Witze zu weit gehen". In der satirischen Schein-Dokumentation hatte der amerikanische Schauspieler Sasha Baron Cohen 2006 einen Kasachen gespielt, der in die USA reist.

Ein Bild zeigt Tamerlan Zarnajew mit nacktem Oberkörper mit einer jungen Frau, die nur ein schulterfreies Shirt trägt. Normalerweise ziehe er sein Hemd nicht aus, weil er Frauen nicht auf falsche Gedanken bringen wolle, zitiert der Fotograf den Tschetschenen. Seine Begründung: "Ich bin sehr religiös." Auch sein jüngerer Bruder trieb Sport. Eine lokale Nachrichtenseite in Cambridge weist Dschochar Zarnajew 2011 als Mitglied der Ringer-Gruppe an der Cambridge Rindge and Latin School von Boston aus.

Die Jagd auf die beiden Brüder beginnt am Donnerstagnachmittag. Da sind die FBI-Ermittlungen ins Stocken geraten: Zwar konzentriert sich längst jeder Verdacht auf die beiden Brüder, aber die Beamten wissen nicht, wen sie da sehen - und wo die mutmaßlichen Terroristen sich verstecken. Also tritt Special Agent Richard DesLauriers vor die Fernsehkameras und macht binnen Sekunden alle Amerikaner zu Hilfspolizisten: "Irgendwer da draußen kennt diese Individuen - als Freunde, Nachbarn, Kollegen oder als Familienangehörige", ruft der Chef des FBI-Büros von Boston in die Mikrofone, "die Nation baut darauf, dass die, die etwas wissen, sich melden und uns informieren."

Sprengstoff-Gürtel am Körper?

Die FBI-Taktik ist es offenbar, die Attentäter zu verunsichern, sie in die Enge zu treiben oder aus ihrem Versteck zu zwingen. Und tatsächlich geraten die Zarnajew-Brüder in Panik. Fünf Stunden später, gegen 22.30 Uhr, meldet ein Streifenpolizist vom Campus des weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) über Funk aus seinem Wagen, er gehe "einer Ruhestörung" nach. Die Brüder, offenbar pleite und ohne weitere Unterstützer, haben eine Filiale von 7 Eleven überfallen.

Der Beamte ruft Verstärkung herbei - und wird Minuten später ermordet in seinem Dienstwagen gefunden. Kurz darauf erfahren die Behörden, im Zentrum von Cambridge hätten zwei bewaffnete Männer einen SUV der Marke Mercedes gestoppt, den Fahrer als Geisel genommen und seien davongerast. Ihrer Geisel sagen sie: "Wir sind die Marathon-Bomber."

Eine halbe Stunde lang gelingt es den Brüdern, vom Radar zu verschwinden. An einer Tankstelle lassen sie ihre Geisel frei, bevor sie davonfahren. Aber die Polizei kommt ihnen auf die Spur, jagt sie auf der Flucht nach Westen entlang des Charles River. Bei der Verfolgungsjagd mit der Polizei werfen sie Sprengkörper aus dem Wagen. In Watertown, einem Vorort mit 30 000 Einwohnern westlich von Boston, stoppt die Polizei sie endlich - und sofort fallen Schüsse. Auf offener Straße liefern sich die Brüder ein Feuergefecht mit der Polizei. Wieder werfen sie Sprengkörper, ein Augenzeuge berichtet, eine Bombe habe ausgesehen wie ein Schnellkochtopf - genau wie die beiden Sprengkörper, die am Montag beim Marathon drei Zuschauer getötet hatten.

Tamerlan Zarnajew, seit Stunden weltweit als "Verdächtiger Nummer 1" mit schwarzer Baseballkappe bekannt, wird schwer verwundet, Dschochar - der "Verdächtige Nummer 2" - verliert offenbar völlig die Nerven: Ein Polizeioffizier erzählt dem Fernsehsender CNN am Morgen danach, der jüngere Bruder habe beim Fluchtversuch mit dem Fahrzeug seinen älteren Bruder überrollt.

Der Jüngere entkommt, zu Fuß verschwindet er in der Nacht. Tamerlan bleibt halbtot zurück. Sein Herz schlägt schon nicht mehr, als er ins Krankenhaus gebracht wird. Die Ärzte erklären später, sein Oberkörper habe unzählige Schusswunden und Verbrennungen von Sprengstoff aufgewiesen. Er trug auch einen Sprengstoffgürtel und einen Zünder am Körper.

Als in Boston die Sonne aufgeht, ist Dschochar Zarnajew noch immer auf freiem Fuß. Weshalb die Behörden maximale Sicherheit anordnen. Sie legen die Millionen-Metropole still: Bostons Busse und U-Bahn - The T - rollen nicht mehr, kein Taxi darf fahren. Sämtliche Schulen bleiben geschlossen, jede öffentliche Veranstaltung wird abgesagt. Teile des Luftraums werden gesperrt. Im Frühstücksfernsehen tritt Kurt Schwartz auf, der Direktor für Heimatschutz in Massachusetts, und warnt die Bürger: "Bleiben Sie drinnen, bleiben Sie daheim!" Der jüngere Bruder könnte schließlich noch im Besitz von Sprengstoff sein und sich oder andere in die Luft sprengen.

Amerika erlebt die Jagd live im Fernsehen, stundenlang. Die Polizei in Watertown durchkämmt Haus für Haus, Block für Block. Mehr als 9000 Beamte sind im Einsatz. Derweil stöbern Journalisten einen Onkel der beiden Attentäter auf. Auf der Straße vor seinem Haus bittet der verzweifelte Mann, der seinen Namen als Ruslan Tsarny buchstabiert, die Opfer seiner Neffen um Vergebung: "An all die, die gelitten haben - ich teile ihre Trauer", ruft er. Ja, er sei Muslim und tschetschenischer Herkunft, aber "wir sind friedvolle Menschen, ich liebe die Vereinigten Staaten". Er schäme sich seiner Verwandten: "Ich und meine Familie hatten mit den beiden seit Jahren nichts mehr zu tun." Dann schreit er wütend in die Kamera: "Dschochar, falls du lebst - gib auf. Und bitte deine Opfer um Vergebung!"

Die Jagd nach ihm wächst sich zum Drama aus. Das Fernsehen zeigt Polizeiwagen, Panzerfahrzeuge, schwarz gekleidete Elite-Einheiten. Auf einem Dach stehen Beamte mit gezückten Waffen. Und alle fragen sich: Wie lang hält dieser 19-Jährige, der allein gegen die amerikanische Staatsgewalt steht, durch? In einem Interview mit der Nachrichtenagentur AP sagt Vater Zarnajew, der in Machatschkala lebt, über seinen jüngeren Sohn Dschochar: "Er ist ein wahrer Engel." Die Mutter sagt später in einem Telefoninterview mit CNN: "Es ist unmöglich für beide, derartige Dinge zu tun." Zubeidat Zarnajewa ist sich sicher: Ihre Söhne seien in eine Falle gelockt worden.

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