Großbritannien:Wut und Tränen

Nach der Brandkatastrophe in London ist die Stadt in Hilfsbereitschaft geeint. Popstars und Politiker spenden Trost und Proviant. Aber mit der Zahl der Toten, die in dem Gebäude gefunden werden, wächst auch der Zorn.

Von Alexander Menden, London

Der anglikanische Dekan von Kensington, Reverend Mark O'Donoghue, hat seit der Nacht von Dienstag auf Mittwoch vermutlich nicht viel Schlaf gehabt. Seit das verheerende Feuer im West-Londoner Grenfell Tower ausbrach, fungiert das Gemeindezentrum der St. Clement's Church als Anlaufpunkt für Überlebende sowie als Sammelstelle für Kleider- und Nahrungsspenden. "Es ist eine typische Londoner Reaktion", sagt O'Donoghue. "Menschen jeden Glaubens und aus jeder Schicht versuchen zu helfen. Die Katastrophe hat das Beste in den Menschen hervorgebracht." Hier stapeln sich Fertiggerichte und Babywindeln, auf Tischen sind Flaschen mit Saft und Wasser aufgereiht. Menschen bringen Kleider, obwohl die freiwilligen Helfer schon gar nicht mehr wissen, wohin mit all den Säcken.

In St. Clement's, ebenso wie in Sikh-Tempeln und Moscheen der Umgebung, im Vereinsheim eines Fußballclubs und nahegelegenen Geschäften, zeigt sich eine Hilfsbereitschaft, die man im Londoner Alltag oft vermisst. In dieser Stadt kann man jahrelang Tür an Tür leben, ohne je ein Wort miteinander zu wechseln, das gilt besonders für Gegenden wie North Kensington: Die stadtplanerischen Eigenheiten der Sechziger- und Siebzigerjahre bringen es mit sich, dass Einfamilienhäuser im Wert von mehreren Millionen Pfund an Sozialsiedlungen wie den Lancaster West Estate grenzen, wo einige der ärmsten Bewohner Londons leben.

Nach dem Hochhausbrand in London

Ausgebrannt: Der Londoner Greenfell Tower am Freitag.

(Foto: Rick Findler/dpa)

Aus der Brandnacht werden nun immer neue Geschichten bekannt: Mohammad al-Haj Ali, ein 23 Jahre alter Syrer, der als Flüchtling nach Großbritannien kam und an der University of West London studierte, wurde von seinem älteren Bruder getrennt und blieb im brennenden Gebäude zurück. Die beiden telefonierten, bis die Verbindung abbrach. Die zwölfjährige Jessica Urbano war in einer Wohnung im 20. Stock des Grenfell Towers, während ihr Vater einen Freund im dritten Stock besuchte. Er konnte nach Ausbruch des Brandes nicht mehr zu ihr gelangen. Jessica rief ihre Mutter an, die gerade von ihrer Nachtschicht bei einer Reinigungsfirma zurückkehrte, und bat um Hilfe. Es ist das Letzte, was die Urbanos von ihrer Tochter gehört haben, seither sind sie im Ungewissen über ihr Schicksal.

Manchmal bedarf es offenbar furchtbarer Ereignisse, um Menschen zusammenzubringen, die im selben Lebensraum und doch in verschiedenen Welten leben. Samantha Cameron, Frau des ehemaligen Premierministers David Cameron, wohnt in Sichtweite des Grenfell Towers; am Tag nach dem Feuer verteilte sie in einer nahegelegenen Kirche Proviant. Sängerin Lily Allen, die aus dem Nachbarstadtteil Hammersmith stammt, bot Überlebenden an, bei ihr zu übernachten. Schulen baten Eltern um Geldspenden, es gibt mehrere Online-Aufrufe; allein der des Londoner Evening Standard brachte bereits mehr als zwei Millionen Pfund ein. Die Hilfsbereitschaft ist so groß, dass das Rote Kreuz irgendwann über Twitter bat, aufgrund der Menge von Sachspenden abzusehen.

Brennbare Dämmung

Beim Hochhausbrand in London war brennbares Dämmmaterial an der Außenfassade nicht die Ursache, aber sehr wahrscheinlich der Grund, warum sich das Feuer rasend schnell ausbreitete. Solches Dämmmaterial besteht aus Polystyrol, das aus Erdöl gewonnen wird. In Deutschland ist das Dämmen damit bei Häusern ab einer Höhe von 22 Metern verboten, für kleinere Gebäude aber absoluter Standard. Denn: "Polystyrol ist billiger und dämmt besser als andere Stoffe", sagt Wolfram Klingsch, Brandschutzexperte und Professor an der Universität Wuppertal. Es gibt zwar auch nicht brennbare und damit sicherere Materialien, aber die sind deutlich teurer. Deshalb sei es bei Polystyrol wichtig, die Bauvorschriften einzuhalten, die in Deutschland längst gelten: Brandriegel aus Stahl zum Beispiel, die verhindern, dass sich Brände über die Fassade fressen. "Richtig verbaut ist Polystyrol ein sinnvolles Dämmmaterial." Hannes Vollmuth

Das große Engagement ändert allerdings nichts an der Wut von Überlebenden und Angehörigen - die offizielle Zahl der Toten stieg am Freitag auf 30, aber noch längst nicht alle Vermissten waren geborgen; laut Berichten lebten zwischen 400 und 600 Menschen in dem 24 Stockwerke hohen Bau. Hunderte Demonstranten versammelten sich am späten Freitagnachmittag vor dem Rathaus im Bezirk Kensington und Chelsea und forderten Antworten von den Behörden. Dutzende trommelten gegen die Scheiben und verlangten Einlass. Einige drangen in das Rathaus ein, wo sich ihnen Polizisten und Sicherheitskräfte entgegenstellten. Die Wut richtet sich nun vor allem gegen die Stadtteilverwaltung von Kensington und Chelsea. Die Anwohner werfen ihr vor, als Eigentümer des Grenfell Towers bei der Renovierung 2016 nicht auf die Brennbarkeit der Fassadenverkleidung geachtet und keine Sprinkleranlage installiert zu haben. Auch die britische Regierung kommt unter Druck aufzuklären, wie es zu der Katastrophe kommen konnte. Premierministerin Theresa May kündigte zwar am Donnerstag eine "sorgfältige öffentliche Untersuchung" an, aber ihr Besuch der Brandstelle wird heftig kritisiert. May hatte mit Feuerwehrleuten gesprochen, aber jeden Kontakt mit den Betroffenen vermieden. Bei einem Besuch am Freitag musste die Polizei May vor zornigen Demonstranten in Sicherheit bringen. Mays Parteifreund Michael Portillo sagte, May habe vollkommene Kontrolle in einer Situation haben wollen, in der sie hätte "Menschlichkeit zeigen" müssen. In krassem Gegensatz dazu stand der Besuch des Labour-Chefs Jeremy Corbyn am Donnerstag, der Menschen umarmte und sich Zeit nahm, ihre Geschichten zu hören. Königin Elizabeth II. sowie ihr Enkel Prinz William ernteten für ihre Visite höflichen Applaus.

Eine Wand nahe der Latymer Church ist bedeckt von handschriftlichen Nachrichten der Bevölkerung. Es sind Gebete dabei, aber es mehren sich mittlerweile auch Sätze wie dieser: "Gerechtigkeit für Grenfell - die Verantwortlichen müssen ins Gefängnis!"

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