Großbritannien:Täter und Opfer

Die britische Justiz muss einige Vergewaltigungsfälle neu aufrollen. Entlastendes Material war zu spät übermittelt worden.

Von Cathrin Kahlweit, London

Gerichtsprozesse, in denen es um Vergewaltigung geht, gehören zu den kompliziertesten in der Jurisprudenz: Oft steht Aussage gegen Aussage, weil kein Zeuge dabei war und Spuren nicht gesichert wurden. Das Urteil steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit des Opfers, wenn der Täter nicht gesteht. In London mussten jetzt innerhalb von zwei Wochen zwei junge Männer aus der Haft entlassen werden, denen Vergewaltigung vorgeworfen wird. Denn die Polizei hatte entlastendes Material, das die Glaubwürdigkeit der Opfer in Frage stellte, nicht oder erst viel zu spät an die Ermittler übergeben.

Der Grund ist unklar, in beiden Fällen ist nach Angaben britischer Medien derselbe Beamte involviert, die Folgen aber sind dramatisch: Bei der Metropolitan Police, auch unter Scotland Yard bekannt, werden derzeit alle aktuellen Ermittlungsverfahren zu Vergewaltigungsfällen ein zweites Mal daraufhin untersucht, ob Beweismaterial von der Polizei tatsächlich an Staatsanwaltschaft und Verteidigung übermittelt wurde; es dürfte sich um Hunderte Fälle handeln. Schließlich waren zwei junge Menschen monatelang einem fürchterlichen Verdacht ausgesetzt gewesen, der ihr weiteres Leben zerstört und ihnen eine lange Haftstrafe eingebracht hätte; sie wären, hätten ihre Verteidiger nicht auf der Aushändigung weiterer Beweismittel bestanden, vermutlich Justiz-Opfer geworden.

Im ersten Fall war der Student Liam Allen zwölffacher Vergewaltigung angeklagt gewesen, er hatte die Taten bestritten. Eine Diskette mit Tausenden Textbotschaften war von der Polizei gesichtet worden; offenbar waren darunter, laut BBC, auch viele SMS vom mutmaßlichen Opfer Allens, in denen sie sich gegenüber Freundinnen brüstete, gelegentlich Sex mit dem vermeintlichen Täter gehabt und dieses genossen zu haben. Die Vorwürfe gegen den jungen Mann wurden daraufhin fallengelassen, er sprach von einer zwei Jahre lang währenden "mentalen Folter". Er will die Metropolitan Police nun verklagen.

Die Londoner Polizei gehe mit Beweismaterial fahrlässig um, kritisieren Anwälte

Im zweiten Fall hatte die Staatsanwaltschaft am Dienstag die Akte zu einem Mann geschlossen, dem vorgeworfen worden war, eine Jugendliche vergewaltigt zu haben. Isaac Itiary war bereits im Juli angeklagt worden, aber erst am 15. Dezember hatte Scotland Yard Material herausgerückt, das den Vorwurf entkräftete. Das Opfer hatte über sein Alter gelogen. Ein Justizsprecher sagte, die Ermittler sähen im Lichte neuer Dokumente keine realistischen Chancen mehr für eine Verurteilung.

Vertreter der Anwaltskammer verwiesen darauf, dass es immer wieder Vorwürfe gebe, die Londoner Polizei gehe mit Beweismaterial fahrlässig um - sei es aus Überforderung und Ressourcenmangel, sei es aufgrund von "Vorurteilen und Voreingenommenheit". Die Polizeiführung stellte dazu fest, die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung in England und Wales habe sich zwischen 2011 und 2016 verdoppelt.

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