Grand Prix d´Eurovision:Kommt ein Mann zum Arzt ...

Die beste Chance auf den Grand-Prix-Titel haben Lieder, die so schlecht sind, dass sie schon wieder gut sind. Warum die finnischen Hardrocker von Lordi, die aussehen wie Riesen-Eidechsen nach einem Atomkrieg, beim Publikum so ankamen.

Oliver Fuchs

Um Mitternacht ist alles vorbei. Applaus, Jubel, spitze Schreie. Glückstrunkene Sieger taumeln umher. Die Bühne: ein Meer aus Blumensträußen.

Da ist der Sprecher sprachlos. Den ganzen Abend hat Peter Urban das Geschehen aus dem Off analysiert, kommentiert, interpretiert. Urban hat eine angenehme Stimme und viel Fachwissen.

Seit Jahren berichtet er für die ARD live vom Grand-Prix-Finale. Aber so etwas ist ihm noch nie passiert. Er schweigt. Und sagt schließlich mit belegter Stimme: "Mit diesen Bildern, meine Damen und Herren, verabschieden wir uns aus Athen. Wir schalten jetzt nach Hamburg."

Kaputt, abgerockt, verätzt

Im Studio in Hamburg schwenkt die Kamera über fassungslose Gesichter. Moderator Thomas Hermanns, sonst nie um einen Gag verlegen, wirkt schwermütig. Er befragt als erstes den Grand-Prix-Experten Georg Uecker, und als der nicht weiter weiß, kommt Thomas Anders dran. Doch auch Anders ringt mit den Worten. Die Bilder erinnern an ARD-Brennpunkt-Sendungen nach einem Erdbeben oder einer besonders schrecklichen Attentats-Serie.

Was ist passiert? Eine finnische Heavy-Metal-Gruppe hat den Eurovision Song Contest gewonnen. Mit dem Titel "Hard Rock Halleluja". Die Musiker, muss man dazu sagen, tragen Ganzkörper-Gummianzüge und sehen aus wie Riesen-Eidechsen nach einem Atomkrieg. Kaputt, abgerockt und irgendwie verätzt.

Geschätzte hundert Millionen Fernsehzuschauer in 38 Ländern goutieren die insgesamt recht geschmackfreie Darbietung. Das anschließende "Tele-Voting" gewinnen Lordi, so heißt die Reptilien-Gruppe, mit sehr großem Vorsprung. Und der stilsichere deutsche Beitrag von Texas Lightning, das wunderbar elegante und diskrete Lied "No, No, Never", landet auf Rang 15. Ein ziemlicher Schock.

Irgendwie sei "Hard Rock Halleluja" doch ein schlüssiger Titel, sagt Uecker schließlich. Und Anders meint, der Song sei trotz allem, nun ja, eingängig. Das sind rührend hilflose Versuche, das Unerklärliche zu erklären.

Ein guter Song ist hinderlich

Um wenigstens ansatzweise zu verstehen, was passiert ist, schaut man sich am besten das seltsame Musikgenre "Grand-Prix-Song" einmal genauer an. Ein Wettbewerb um das beste Lied Europas war der Grand Prix vielleicht ganz am Anfang, vor 50 Jahren. Womöglich ging es da tatsächlich um das inspirierteste Songwriting, die erlesensten Arrangements, den kunstvollsten Vortrag.

Doch bald schon verwandelte sich die Veranstaltung in ein irres Spektakel. Heute ist das Ziel der Interpreten eher, in drei Minuten möglichst viel Wirbel zu veranstalten. Ein guter Song ist dabei oft hinderlich. Der typische Grand-Prix-Titel, das ist mitunter ein Lied, das so schlecht ist, dass es schon wieder gut ist. Es muss das ganz Große wollen und darf dann ruhig himmelweit daneben gehen: Scheitern als Chance. Es muss melodramatisch sein, Herzen öffnen, an die Nieren gehen, in die Magengrube schlagen.

Insofern muss man sagen, dass Texas Lightning einfach zu gut waren. Nicht plakativ genug. Zu intellektuell. Es braucht schon etwas Abstraktionsvermögen, um den Witz und die Poesie von vier norddeutschen Cowboys und einem australischen Cowgirl zu würdigen. Soviel Geistesanstrengung kann man an einem Party-Samstagabend nicht verlangen.

Singende Raffaelo-Werbung

Es gab nur wenige Titel bei diesem 51. Grand-Prix-Finale, die handwerklich so perfekt waren wie "No, No, Never". Aber um Handwerk, Qualität, Perfektion geht es ja, wie gesagt, kaum. Die Beiträge aus Frankreich (schief, heulsusig), Mazedonien (rhythmische Sportgymnastik) und Kroatien (unterirdische Volkstanz-Peep-Show) nährten eher den Verdacht, dass es sich die Teilnehmer zum Ziel gesetzt hatten, die Nachbarländer in Angst und Schrecken zu versetzen.

Ach, die lieben europäischen Nachbarn! Was mag Norwegen bewogen haben, eine singende Raffaelo-Werbung ins Rennen zu schicken? Wieso zappeln Las Ketchup aus Spanien auf Bürostühlen herum, während sie irgendwas von Bloody Mary zwitschern? Und was zum Teufel hat beim russischen Beitrag ein weißer Flügel auf der Bühne zu suchen, wenn niemand darauf spielt und sich nur eine blonde Elfe darauf räkelt? Tja.

Der A-Cappella-Titel aus Lettland ist so stumpf trashig, dass es selbst dem besonnenen Peter Urban zu bunt wird. "Der Song geht verschlungene Wege, ohne ein erkennbares Ziel", merkt der Sprecher leicht genervt an. So schlecht, dass es schon wieder gut ist? Leider nein. Eher so schlecht, dass es - eine Umdrehung weiter - wieder nur schlecht ist.

Herzbewegender Tritt in die Magengrube

Dass es trotz des Grauens ein schöner Fernsehabend wird, den in Deutschland 10,49 Millionen Menschen (Marktanteil 39 Prozent) sehen, ist auch Urbans Verdienst. Er kommentiert vorsichtig, mit fast britischem Understatement, stets um Sachlichkeit bemüht. Wenn es richtig schlimm wird, lenkt er die Aufmerksamkeit auf technische Details - etwa auf den "modernsten Ü-Wagen der Welt", der in Athen zum Einsatz kommt, sowie die neuartige "Spider-Cam", eine Kamera, die auf Drähten durch die Halle gezogen wird. Interessant.

Und natürlich gibt es das eine oder andere ergreifende Stück. "Superstar" etwa von der reizenden Sibel Tüzün, der türkischen Gwen Stefani. Großes Melodram! Oder der dänische Rock'n'Roll-Rap-Stampfer "Twist Of Love". Doch am dramatischsten und auch ergreifendsten sind am Ende, ja doch: Lordi mit "Hard Rock Hallelujah". Den kaputten Finnen gelingt es, das typische Grand-Prix-Gefühl herzustellen, jene fein ausbalancierte Mischung aus Erstaunen, Verzauberung und Ekel. Kein Zweifel: Lordis Auftritt ist ein herzbewegender Tritt in die Magengrube. Hallelujah!

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