Gordon Sherwood:Der Bettelkomponist

Einst wurden seine Werke in der Carnegie Hall gespielt. Heute lebt er in einem bayerischen Obdachlosenheim. Dennoch: "Ich bin einer der großen Musiker dieses Jahrhunderts", sagt Gordon Sherwood.

Dietrich Mittler

Wenn Gordon Sherwood nicht schlafen kann, begegnet er manchmal sich selbst - diesem zehnjährigen Jungen, der lustlos mit seiner Mutter spazieren geht und sich immer weiter zurückfallen lässt. Als der Abstand zur Mutter groß genug ist, fängt der Bub an zu singen. Es sind Melodien, die die Welt noch nie gehört hat, die ersten Kompositionen von Gordon Sherwood.

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(Foto: Foto: Ralf Gerard)

Inzwischen zählt sein Werkverzeichnis mehr als 130 Einträge - Symphonien, Sonaten, Quintette, Quartette, Fugen, Interludien. Dennoch quälen ihn immer noch die Erinnerungen an ein Elternhaus, das seine ältere Schwester in den Wahnsinn trieb und ihn selbst um die halbe Welt.

Rom, Paris, Herzogsägmühle

Jetzt lebt der 77-Jährige aus Evanston im US-Bundesstaat Illinois im oberbayerischen Sozialdorf Herzogsägmühle, das die Diakonie betreibt. Er hat dort im Alten- und Pflegeheim Schöneckerhaus ein Zimmer - so wie viele einstige Obdachlose. Sherwood, der selbst Jahre seines Lebens auf der Straße gelebt und gebettelt hat, empfindet sich aber nicht als einer der ihren.

Sein eigenes Bettlerdasein bezeichnet er als "Selbstsponsoring". Es habe einzig dem Zweck gedient, sein musikalisches Werk zu vollenden. "Ich bin einer der großen Komponisten dieses Jahrhunderts", erklärt er mit breitem amerikanischen Akzent. Mit wachen Augen fixiert er sein Gegenüber, erzählt ohne Pause aus seinem Leben - und bleibt dabei doch ein rätselhaftes Genie. Kennt dieser große, hagere und unrasierte Mann so etwas wie eine Heimat?

Erst seit kurzem ist er von seiner Brasilienreise zurück. Sie war ein einziges Desaster. Sherwood wollte einen Wunderheiler treffen. Einer, von dem er sich erhoffte, er werde ihm die Schmerzen in den Beinen nehmen. Der 77-Jährige flog über Paris nach Rio de Janeiro. Niemand hatte ihm gesagt, dass er zur Einreise ein Visum braucht.

Ertappt beim Mützen-Diebstahl

Die Beamten verfrachteten ihn ins nächste Flugzeug zurück nach Paris. Da stand er, es war kalt und das Portemonnaie fast leer. Sherwood versuchte, eine wärmende Wollmütze zu stehlen, wurde erwischt und verlor so seine letzten 14 Euro, von denen er sich eine Pizza kaufen wollte. Die Heilsarmee nahm ihn auf. Mehr als zwei Monate teilte er ein Zimmer mit Stadtstreichern.

In diesem Augenblick tiefer Depression bewährte sich das Netzwerk aus Freunden, das Sherwood über die ganze Welt gespannt hat. Er war bereits in New York (1957 Uraufführung seiner preisgekrönten Symphonie in der Carnegie Hall), in Hamburg (dank Fulbright-Stipendium), Rom (Accademia Santa Cecilia mit Abschluss und Kompositionspreis), Israel (U-Haft wegen Diebstahls), Kairo (Auftrag für eine Filmkomposition), Beirut (Kino- und Barpianist), Nairobi, Mombasa und Nakuru (Diplom in Kisuaheli), in Indien, Nepal, Thailand, und Singapur, London (Ausweisung wegen Bettelns), New York (Obdachlosenheim), Paris (Fernsehteam dreht über ihn den Film "Der Bettler von Paris") sowie in Berlin, Hongkong, Peking und Ulan Bator.

Es würde lange dauern, alle weiteren Orte und Länder aufzuzählen, in denen er gelebt, gebettelt und komponiert hat.

Jedenfalls lernte er vor gut sechs Jahren den Hörfunkautor Uli Kahmann kennen. Der setzte sich dafür ein, dass einige von Sherwoods Werken im westfälischen Herford aufgeführt wurden. Dazu wurde der Komponist, der noch in Paris festsaß, als Ehrengast eingeladen.

Das Wunder von Herford

Eben noch ganz unten, erlebte Sherwood Unglaubliches: Nach dem Konzert erhob sich das Publikum und applaudierte ihm im Stehen zu. Er, der sich zwei Jahre zuvor noch voller Zorn zum "berühmtesten aller unbekannten Komponisten" erklärt hatte, ließ die Qual der letzten Jahre hinter sich. Zurückgekehrt in Herzogsägmühle, sagt er: "Ich bin ein junger Mann, und ich habe noch viel vor."

"Die anderen Bettler haben mich beschimpft und bedroht"

"Vor zwei Jahren war Gordon völlig am Ende", erinnert sich Kahmann. Freunde - ein Rockmusiker und ein Künstler aus Peiting vermittelten ihm einen Platz in Herzogsägmühle. Dort genießt Sherwood einen gewissen Nimbus. "Das macht andere Männer, die hier wohnen, manchmal etwas neidisch", sagt er. Auf den Champs Élysées in Paris hat er lernen müssen, mit solchen Situationen umzugehen. "Die anderen Bettler haben mich beschimpft und bedroht", sagt er, "ich war einfach anders." Zu diesem Anderssein gehört auch, dass er seit gut 25 Jahren kein Fleisch mehr isst. Alkohol war sowieso nie seine Sache. Er glaubt an die Lehren Buddhas.

Der Bettelkomponist

Für das bisweilen provokante Anderssein hat Sherwood sein ganzes Leben lang einen hohen Preis gezahlt: Ausgrenzung, Spott und oft auch Gewalt. Als er einmal seinem Opa frech kam, wusch ihm die Mutter den Mund mit Seife aus. Später steckten die Eltern, die Sherwood als "bigott, hart und dumm" beschreibt, ihren Sohn in eine religiös orientierte Kadettenanstalt in Indiana.

Bald schon kam der rebellische Sohn in eine andere Kadettenanstalt, in der nun wiederum das Fluchen, Trinken und Pöbeln zum guten Ton gehörte. Auch da war er fehl am Platz. Schließlich durfte Sherwood ein normales Internat besuchen. In dieser Zeit hatte er ein Schlüsselerlebnis. Im Radio ertönte bei einem seiner Besuche zu Hause Beethovens 7. Symphonie.

Erste Platte mit 74 Jahren

Der junge Mann teilte seinen verdutzten Eltern mit, er wolle Komponist werden. Sein Vater, Buchhalter von Beruf, reagierte äußerlich gelassen: "Als Erstes musst du Harmonielehre studieren." Doch innerlich wurde er seitdem wohl nie mehr die Angst los, sein Sohn werde kaum jemals eigenes Geld verdienen. Die Sorge war nur zu begründet. "Gordon Sherwood kann sich selbst nicht vermarkten. Wenn derselbe Komponist, der mit 28 Jahren in der Carnegie Hall uraufgeführt wird, sein Plattendebüt erst im Alter von 74Jahren auf den Markt bringt, dann macht das stutzig", sagt selbst sein Freund Uli Kahmann.

Die Folge war, dass Emery Sherwood seinem Sohn immer wieder Geld schicken musste. Das elterliche Sponsoring fand ein jähes Ende, als sich Sherwood von seiner deutschen Frau Ruth trennte - oder vielmehr sich einfach aus dem Staub machte, ohne Abschied, ohne alles. Das war damals in Kenia.

Während seine Frau wie verabredet in einer Bibliothek auf ihn wartete, saß Sherwood bereits in einem Flugzeug nach Indien. Am Anfang ihrer Beziehung hatte die junge Sopranistin den aufstrebenden Komponisten noch verehrt "wie einen Gott". Dann wurde ihr das Vagabundenleben wohl zu viel. "Sie hat verlangt, ich solle einen normalen Beruf ausüben und das Komponieren zurückstellen", sagt Sherwood. Für ihn war das der Bruch.

Unterrichten? - Undenkbar!

Auch jetzt würde er niemals als Musiklehrer arbeiten, versichert der 77-Jährige. Er sei immer noch ein Lernender. Allerdings einer, der musikalische Vorbilder mittlerweile strikt ablehnt. Kürzlich erst hat er ein Werk vollendet, das 50 Jahre lang in der Schublade lag. "Solche unfertigen Stücke, die nenne ich meine Feinde", sagt er. Die fertigen hingegen seien Freunde. "Die erlaubten mir, endlich wieder etwas Neues zu beginnen."

Mühsam schleppt sich Gordon Sherwood zu seinem Zimmer. Der Rhythmus seines kranken Körpers wird dominiert vom metallischen "Klack" der Gehhilfe und dem dumpfen "Tap, Tap" der nachgezogenen Beine. Doch diesen Rhythmus kann und will er nicht akzeptieren. "Meine musikalische Entwicklung scheint kein Ende zu haben", sagt er. Wenn jedoch an grauen Wintertagen depressive Gedanken über ihn herfallen, bleibt er seinen Notenblättern fern. "Ich brauche Licht, um komponieren zu können. Licht, Luft und einen großen Tisch, auf dem meine Kompositionen Platz haben", sagt er.

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