Glauben in Ostdeutschland:Unter leerem Himmel

Sonnenuntergang über Dresden

Himmel über der berühmten Frauenkirche in Dresden.

(Foto: dpa)

Nirgendwo auf der Welt bekennen sich so wenige Menschen zum Glauben wie in Ostdeutschland. Was macht die Abwesenheit der Kirche mit einer Gesellschaft? Heidnisch sind die Menschen in den neuen Bundesländern nicht und auch nicht weniger moralisch als ihre Mitbürger im Westen. Eine Reise in ein gottloses Land, zu Zweifelnden, Suchenden und Gläubigen.

Von Cornelius Pollmer, Leipzig

Vor einigen Jahren wurden ein paar Jugendliche am Leipziger Hauptbahnhof aufgehalten. Für eine Umfrage sollten sie sich zu ihrem Glauben bekennen: religiös - oder nicht? Die Jugendlichen waren von der Frage irritiert. Sie antworteten: "Weder noch, normal halt".

Diese Antwort darf einen nun erst recht irritieren. Frage: Wie weit hat sich ein Mensch vom Glauben entfernt, wenn er selbst die Abgrenzung davon als unnormal empfindet? Antwort: so weit wie nirgendwo sonst. Es gibt eine Studie der Universität Chicago, sie wurde im vergangenen Jahr veröffentlicht, und man kann sagen, dass der Osten Deutschlands seit den Olympischen Winterspielen von Sarajewo 1984 keinen Ländervergleich mehr so beeindruckend angeführt hat.

Nur ein Beispiel: Tabelle 5 dieser Untersuchung ordnet die Staaten nach dem Anteil "strenger Atheisten" in der Bevölkerung. Auf dem letzten Platz liegen die Philippinen (0,1 Prozent), auf Rang 17 "Germany, West" (4,9 Prozent), die Tschechische Republik erreicht Platz zwei mit etwas mehr als 26 Prozent. Auf Platz eins: "Germany, East", 46,1 Prozent. Normal halt.

Da ist es schon eine Meldung wert, dass ausgerechnet ein Ostdeutscher Benedikt XVI. zum Lächeln gebracht hat. In knapp zwei Wochen wird Michael Triegel den gewesenen Papst in Leipzig auf die Rückbank seines Audi A6 setzen, und dann werden die beiden über den Brenner nach Rom zur deutschen Botschaft am Heiligen Stuhl fahren. Triegel hat Benedikt schon einmal porträtiert, vor zweieinhalb Jahren, eine Auftragsarbeit für das Bistum Regensburg. Der Papst wirkt darauf müde und etwas verloren. Der zweite, der neue Benedikt aber lächelt. Warum? "Ich weiß es doch auch nicht", sagt Triegel.

Glaube als Gegenentwurf zum sozialistischen Paradies

Michael Triegel ist ein Suchender, gerade sucht er zum Beispiel sein Handy. Es muss hier irgendwo liegen, in seinem Atelier in der Leipziger Baumwollspinnerei. Stärker aber beschäftigt Triegel die Suche nach dem Glauben, und das in gleich doppelter Hinsicht. Zum einen hat ihn Religion schon als Jugendlicher angezogen, "weil ich weder in der Schule noch in der Familie und schon gar nicht in der Gesellschaft, wo die Bonzen oben waren, eine Autorität gefunden habe, die ich ernst nehmen konnte. Eine, die nicht nur behauptet gewesen wäre, sondern intellektuell spannend."

Der Glaube sei ihm ein Gegenentwurf gewesen zum angeblichen Paradies auf Erden, das ihm im Schulfach Staatsbürgerkunde nahegebracht werden sollte. Zum anderen kann der Maler Michael Triegel, 44, ganz ordentlich von dieser Suche leben. Er hat bislang vier Altäre gemalt. Die Kirche ist ihm ein guter Auftraggeber.

Über die Kunst ist Triegel in eine Art Halbdistanz zum Glauben geraten, "ein Psychiater würde das schizoide Selbstspaltung nennen", findet er: "diese Suche nach Nähe und die gleichzeitige Angst davor". Triegel ist nicht getauft, aber das könne sich ja noch ändern. Ein normaler Atheist ist er halt auch nicht mehr. Auch weil er im Glauben die Möglichkeit vermutet, ein Geheimnis zu finden und "dem ewig Rationalen dieser Gesellschaft zu entkommen".

Wahrscheinlich aber fehlt Michael Triegel die Naivität, um dieses Geheimnis zu entdecken. Zu klar ist seine Trennung zwischen Glauben als Idee (wunderbar) - und dem tatsächlichen Vertrauen in, zum Beispiel, die Wiederauferstehung (nie im Leben - und auch nicht danach.) Solange er diesen tatsächlichen Glauben nicht habe, sagt Triegel, "thematisiere ich weiter meine Zweifel und Sehnsüchte".

Man kann beides ganz gut erkennen, wenn man seinen "Ostertraum" betrachtet, ein Bild, auf dem der Tod die Hauptrolle spielt: verschrumpelte, von Wurmlöchern zerstochene Äpfel, Tierschädel, der Heiland am Kreuz. Nur im Hintergrund, leicht versteckt, ist der Auferstehende zu erkennen. Als Kinderzeichnung.

Zweifel hat Michael Triegel auch daran, dass es mit den Kirchen im Osten demnächst wieder aufwärts geht. "Vieles, was früher durch Religion besetzt war, ist durch profane Surrogate besetzt." Es seien "Leerstellen entstanden, die wir auf rührende Weise versuchen zu besetzen." Will man daraus zumindest eine notdürftige Tugend für den Osten machen, dann die, dass das Schrumpfen der Volkskirchen hier auch eine Chance sein kann: "Was nicht mehr richtig da ist, das kann neu entdeckt werden."

Die "Propagierung der Gottlosigkeit"

So richtig da waren die Kirchen das letzte Mal eigentlich im Herbst 1989. Der Pfarrer der Dresdner Kreuzkirche hieß damals Christof Ziemer. Er war Superintendent und ein führender Kopf der Friedensbewegung, was als stehender Begriff heute fast so klingt, als wäre es im Wendeherbst ein offizielles Amt gewesen.

Der evangelische Theologe Ziemer hatte erlebt, wie der Osten nach dem Nationalsozialismus in der Zeit der DDR ein zweites Mal säkularisiert worden war. Er hatte erlebt, wie "die natürliche Rückkehr eines religiösen Bedürfnisses" nach dem Krieg durch eine "Propagierung der Gottlosigkeit" unterdrückt worden war. Und wie Menschen deswegen vom Glauben abgefallen waren, "um ihres Lebens, ihrer Bildung oder ihrer Familienplanung willen".

Kurz nach dem Krieg hatten sich im Osten noch mehr als 80 Prozent zum evangelischen Glauben bekannt. Knapp 20 Jahre später, bei der letzten Volkszählung, die nach der Konfession fragte, waren es 60 Prozent gewesen, seit Ende der Achtziger war es nur noch jeder Vierte. Katholiken? Inzwischen deutlich unter zehn Prozent.

In der friedlichen Revolution fanden die Menschen ihren Weg zurück, "aber nicht, weil sie den Glauben gesucht haben, sondern weil die Kirchen der Ort waren, an dem die Zukunft der Gesellschaft verhandelt wurde", sagt Ziemer. Dass die Kirchen bei diesen Verhandlungen Wichtiges geleistet haben, ist unbestritten. Die Frage ist nur, ob sie nicht auch die Gunst der historischen Stunde hätten nutzen sollen, um Akquise in eigener Sache zu betreiben. "Dass da nicht missioniert wurde, ist ein Ruhmesblatt", findet dagegen Ziemer. Die Kirche habe da "etwas ganz Selbstloses getan. Sie war, was sie immer sein wollte: eine Kirche für andere." Vielleicht war das eine Art Pyrrhus-Niederlage, vordergründig ein Verlust, aber im höheren Sinn richtig.

Der Verlust sah so aus: Zwar saßen nach der Einheit auch unter Ziemers Kanzel bald viele vormals treue Genossen, die im Glauben neuen Halt zu finden hofften. Aber den meisten Menschen konnten die Kirchen in einer Phase tiefer Orientierungslosigkeit keine Orientierung geben. Statt Identität zu stiften in einem Land, das gerade abgewickelt wurde, beschäftigten sie sich vor allem mit sich selbst. Heute sieht Ziemer eine große Zahl Menschen, "denen Gott in seiner Fremdheit gleichgültig geworden ist".

Religion braucht Emotionen

Ein später Sieg für den Marxismus? Die Glaubensferne habe sich in einer "eigenartigen Weise festgesetzt", sagt Eberhard Tiefensee, "im Unterschied zu vielem anderen, das die DDR ,geleistet' hat und das untergegangen ist". Tiefensee ist katholischer Priester und Professor für Philosophie an der Universität Erfurt. Insofern schaut er auch über den Rand der beiden christlichen Kirchen hinaus - "wenn man Religionssoziologen fragt, dann ist da nicht viel. Ostdeutsche gehen auch nicht zum Dalai Lama."

Ein Grund dafür sei die stark rationale Sicht auf alle Fragen der Transzendenz. Wenn er Menschen fragt, warum sie nicht glauben, dann hört Tiefensee häufig: Na, das ist doch wissenschaftlich widerlegt, es gibt doch keinen Gott! "Emotionalität, die in der Religion eine große Rolle spielt, gilt im Vergleich zum Verstand nichts", sagt er. Andererseits, das immerhin beruhige, folge dem Mangel an Gottesfurcht keine moralische Erosion. "Da liegt Ostdeutschland auf dem Niveau Westeuropas." Was aber auch nicht besonders hoch sei. Speziell im Osten Deutschlands sei "der Milieudruck enorm hoch. Konfessionslosigkeit vererbt sich viel stärker als Religiosität." Wer hier als Christ Gehör finden will, braucht mehr Geduld als anderswo.

Bei Antje Hermenau hat es fünf Jahre gedauert, dann traf sie eine Entscheidung und besuchte den Kurs "Religion für Neugierige". Hermenau ist 48 Jahre alt und steht den Grünen im Sächsischen Landtag vor. Alle neun Abgeordneten der Fraktion sind getauft. Hermenau trägt seit der Osternacht vor zwei Jahren ein kleines goldenes Kreuz um den Hals.

Ihr Großvater war Leitender Offizier in der Wehrmacht, seine Bindung ans Geistliche legte er zugunsten der Karriere ab. Als ihre Mutter vor ein paar Jahren dem Tod immer näherkam, sprach Hermenau viel mit ihr übers Glauben und Zweifeln und die Taufe. Sie sprach auch mit gläubigen Christen in ihrem Bekanntenkreis, und sie stellte Fragen, zum Beispiel zur Ernsthaftigkeit des Gebets. Zwar könne sie sich "über die Institution Kirche manchmal auch die Haare raufen, man bekommt sie ja als Mitgift dazu".

Aber die Entscheidung, sich evangelisch taufen zu lassen, "fühlt sich immer noch richtig an". Denn der Glaube könne vor Maßlosigkeit schützen, und "die Begrenzung der Maßlosigkeit ist für mich eine prägende Lebensfrage". Zweifel sind geblieben, aber da habe ihr auch der Kurs in der Dresdner Frauenkirche geholfen. Hermenau erinnert sich "an einen Abend, an dem mir klar wurde, dass man sowohl gläubig als auch Agnostiker sein kann. Da hatte ich meinen Frieden gemacht."

Glaube muss erfahren werden

Natürlich ist das eine Ausnahme, viel häufiger hinterlässt der Milieudruck Dellen. Da muss man nur mal zum Gottesdienst aufs Land fahren, wie nach Zwochau, Landkreis Nordsachsen, Palmsonntag, neun Uhr. Die katholische Gemeinschaft der Fokolare hat dort vor vier Jahren Gottes- und Pfarrhaus vom Bistum Dresden übernommen. Die Zentrale hatte den Ort aufgegeben. "Die haben gesagt: Für zehn Leute können wir das nicht aufrechterhalten", sagt Pfarrer Paul Christian.

Draußen schmirgelt ein scharfer Wind durch den zitterkalten Morgen, drinnen hört man das Heißluftgebläse. Pfarrer Christian stimmt das vierte der sieben Worte Jesu am Kreuz an: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" Bei den Vermeldungen später blickt er kurz auf: "Ministranten sind keine da? Ja, dann muss ich da nichts vermelden."

Christian ist 76 Jahre alt und eigentlich im Ruhestand. Aber heute sitzen 30 Fokolare in der Bank, weshalb es lohnt, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Mehr noch, der Pfarrer glaubt: "Es ist meine Grundüberzeugung, dass Gott in dieser Krise etwas Neues schafft", sagt er.

Auch wenn er da noch keine Zeichen vernommen hat. Als man ihn nach der Messe fragt, ob es bei 30 Leuten im Gottesdienst nicht langsam Zeit sei für den Aufbruch, verweist er auf seinen Kollegen in der evangelischen Kirche im Ort: "Wenn der heute zehne hat, ist er froh."

Die bloße Mission jedenfalls werde der Kirche nicht helfen, sagt Paul Christian. "Auch das ist meine Grunderfahrung: Du kannst niemandem den Glauben geben, er muss erfahren werden." Pfarrer Christian darf man das glauben. Seine Nichte arbeitet seit einigen Jahren bei ihm im Pfarrhaus als Haushälterin. Sie ist noch immer: strenge Atheistin.

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