Gewalt:Messerattacke bei Tokio - der böse Gedanke vom "unwerten Leben"

  • In einem Heim für Behinderte in der Nähe von Tokio hat ein 26-jähriger Japaner 19 Menschen mit einem Messer getötet.
  • Er überraschte seine Opfer im Schlaf. Anschließend stellte er sich der Polizei.
  • Der Mann arbeitete früher selbst in der Einrichtung - viele Pfleger gelten in Japan wegen schlechter Arbeitsbedingungen als frustriert.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Ein 26-jähriger Japaner hat in der Nacht auf Dienstag in einem Behindertenheim in Tsukui 19 Menschen erstochen, etwa 25 wurden verletzt, 20 von ihnen schwer. Er hatte die Opfer gegen 2:30 Uhr im Schlaf überrascht. Anschließend stellte er sich in einem nahen Posten der Polizei. Er gibt die Bluttat zu.

Nach Angaben des japanischen Fernsehens arbeitete der Mörder bis vor Kurzem vier Jahre selber in dem Behindertenheim, einer großzügigen Anlage in einem Park am Rande von Sagamihara, einer industrialisierten Vorstadt von Tokio. Das Städtchen Tsukui, in den Bergen und an einem See gelegen, wurde vor neun Jahren nach Sagamihara eingemeindet.

Bei seiner Verhaftung soll der Täter gesagt haben: "Es wäre besser, alle Behinderten verschwänden." Er hatte seine Stelle im Februar verloren und war für einige Wochen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden, nachdem er in einem Brief gedroht hatte, er könnte "470 Schwerbehinderte ausmerzen", wie japanische Medien berichten. Er wäre in der Lage in einer einzigen Nachtschicht in Tsukui und einem zweiten Heim 260 Menschen zu töten, die Angestellten würde er verschonen. "Mein Ziel ist eine Welt, in der Schwerbehinderte mit der Zustimmung ihres Vormunds euthanasiert werden können, wenn sie nicht zuhause wohnen und am Gesellschaftsleben teilnehmen können", schrieb er.

Die Anlage Tsukui Yamayuri-en bietet 160 Patienten Platz, im April war sie zu mehr als 90 Prozent belegt. Wie die Nachrichtenagentur Kyodo meldet, waren die Ermordeten zwischen 19 und 70 Jahre alt. Zehn von ihnen waren Frauen.

Yuji Kuroiwa, der Gouverneur der Präfektur Kanagawa, in der Tsukui liegt, sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus und entschuldigte sich für ihr Leid. Die Präfektur überwacht das Heim, führt es aber nicht.

Japans Alten- und Behindertenpflege steckt in einer tiefen Krise, es fehlt an Personal, und die Löhne sind schlecht. Viele Pfleger sind gestresst. Das Gesundheitsministerium registriert regelmäßig Gewalt von Pflegern gegen greise Patienten, 2014 waren es mehr als 300 schwere Fälle. In einem Altenheim in Kawasaki, einer Großstadt westlich von Tokio, die ebenfalls zu Kanagawa gehört, stieß voriges Jahr ein junger Pfleger drei greise Patienten von einem Balkon. Der Polizei sagte er, die Alten seien ihm auf die Nerven gegangen.

Japan reagierte geschockt auf die Bluttat, Gewaltverbrechen sind hier selten. In Japan geschehen dreimal weniger Morde pro Kopf der Bevölkerung als in Deutschland. 2001 erstach ein Mann in einer Schule in Osaka acht Kinder und verletzte 15. 2008 raste ein damals 25-jähriger Mann mit einem geliehenen Lkw in eine Menschenmenge in Tokios Elektronikbezirk Akihabara; dann sprang er aus dem Laster, erstach einen Passanten und verletzte sieben mit einem Messer. Er sagte der Polizei, er habe einfach jemanden töten wollen. 2009 wurde er zum Tode verurteilt, das Urteil wurde 2013 vollstreckt.

Selbst die Mafia schreckt vor Schusswaffen zurück

Japans Waffengesetze sind so streng, dass selbst die Yakuza, das organisierte Verbrechen, sich scheut, Schusswaffen zu tragen. Vor allem die seltenen Mehrfachmorde geschehen deshalb meist mit Messern. Allerdings ist auch der Besitz von Schwertern und Dolchen seit 2009 strafbar.

Behinderte fehlten bis vor wenigen Jahren im Straßenbild Japans völlig. U- und S-Bahnen bauten erst in den letzten Jahren Einrichtungen für Rollstuhlfahrer. Dabei sind nach einer Regierungsstatistik 3,5 Millionen Japaner körperlich und 500 000 geistig behindert. Die Familien verstecken ihre behinderten Angehörigen, sie schämten sich für ihr etwas anderes Familienmitglied.

Bis vor wenigen Jahren hat das Erziehungsministerium behinderte Kinder vom Besuch normaler Schulen ausgeschlossen. Es war der Meinung, es sei für beide Seiten besser, wenn sie getrennt von der übrigen Gesellschaft lebten. Obwohl schon seit 30 Jahren ein Gesetz die Gleichbehandlung Behinderter vorschreibt, werden diese auch bei der Stellensuche benachteiligt. Sich seiner Gruppe anzupassen und nicht aufzufallen ist in Japan das oberste soziale Gebot, Behinderte jedoch sind zwangsläufig anders.

Diese Haltung verändert sich seit wenigen Jahren langsam, nicht zuletzt unter dem Druck des Auslands. Aber ganz ist der böse Gedanke vom "unwerten Leben" aus der japanischen Gesellschaft noch nicht verschwunden.

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