Gewalt:In ganz Deutschland boomen Selbstverteidigungskurse

Selbstverteidigungskurs

In einem Berliner Fitness-Studio gibt ein Boxtrainer Frauen kostenlosen Unterricht in Selbstverteidigung. Die Nachfrage nach solchen Kursen steigt landesweit.

(Foto: Regina Schmeken)
  • Für die Veranstalter von Selbstverteidigungskursen läuft es derzeit so gut wie lange nicht.
  • Dabei zeigt die bundesweite Kriminalstatistik: Deutschland ist sicher wie lange nicht.
  • Viele Menschen treibt das Gefühl um, sich im öffentlichen Raum nicht mehr frei bewegen zu können.

Von Verena Mayer

Was tun, wenn man in einer Kneipe plötzlich zu Boden gezogen wird? Wenn einen von hinten jemand am Hals packt und würgt? Oder wenn einen auf einem Straßenfest eine ganze Gruppe umringt und ohrfeigen will? Geht es nach Raphael Wildemann, lautet die Antwort auf all diese Fragen: einfach einen israelischen Kampfgriff anwenden. Also die Hand in einem bestimmten Winkel aus der Umklammerung winden oder den Arm eines Angreifers packen und in einer schnellen Drehung über den Kopf ziehen.

Wildemann ist Trainer für Selbstverteidigung, er unterrichtet Krav Maga, einen Kampfsport, der ursprünglich aus der israelischen Armee stammt und sich seit einigen Jahren auch unter deutschen Zivilisten wachsender Beliebtheit erfreut. Vor allem aber ist Wildemann Geschäftsführer einer Kette von Krav-Maga-Studios, die hierzulande sieben Standorte betreibt. Und als solcher kann er derzeit nicht klagen, im Gegenteil: So gut wie in diesem Jahr lief es selten.

Und er ist nicht der Einzige. Überall im Land boomt derzeit das Geschäft mit der Selbstverteidigung. Ob man bei Taekwondo-Vereinen fragt, bei der Polizei oder in Fitnessstudios - sie alle bestätigen die Entwicklung. Selbst die Volkshochschulen profitieren davon. Wie die Deutsche Presse-Agentur recherchierte, konnte die Volkshochschule in einer Stadt wie Stuttgart ihr Kursangebot in den Bereichen Selbstbehauptung und Selbstverteidigung verdoppeln, in Mannheim sogar verdreifachen. Und in Freiburg führt man für Kurse, die sich an Mädchen richten, schon seit Längerem Wartelisten.

Die Unsicherheit hat nach den jüngsten Gewalttaten neue Nahrung

Ein Grund sei das Gefühl vieler Menschen, sich im öffentlichen Raum nicht mehr sicher bewegen zu können, sagt Wildemann. In den vergangenen Wochen hat es wieder Nahrung bekommen. Durch das Verbrechen an einer Studentin in Freiburg etwa. Oder nun durch das Video aus einer Überwachungskamera in Berlin. Es zeigt eine junge Frau, die am U-Bahnhof Hermannstraße in Neukölln eine Treppe hinuntergeht. Plötzlich kommt von hinten ein Mann und tritt sie in den Rücken, einfach so. Die 26-Jährige stürzt über die Steinstufen und bleibt mit gebrochenem Arm liegen, während der Täter und seine drei Begleiter weiterschlendern. Als wäre nichts gewesen.

Gewalt und Videoüberwachung

Eine Überwachungskamera hält ein Verbrechen fest und hilft bei der Fahndung: Fast immer haben solche Fälle zu einer Debatte geführt und der Frage: Braucht eine sichere Gesellschaft mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum? Auch im Dezember 2007, als zwei junge Männer auf einen 76-jährigen Rentner im Münchner U-Bahnhof Arabellapark einschlagen. Sie treten ihm mehrmals ins Gesicht, mit Anlauf. Der Fall bewegt, weil jeder diese Bilder sehen kann, eine Überwachungskamera hat sie aufgezeichnet. Der Tat folgt eine leidenschaftliche Debatte im Land über Videoüberwachung, Jugendstrafrecht und Kriminalität junger Ausländer. Im Fall Dominik Brunner gerät knapp zwei Jahre später die Deutsche Bahn in die Kritik, weil eine Überwachungskamera in der S-Bahn nicht funktioniert. Zwei Jugendliche, 17 und 18 Jahre alt, treten Brunner im Münchner Vorort Solln zu Tode, Brunner hatte im Zug eine Gruppe von Schülern vor den beiden beschützt. Die Täter werden auch so gefasst, aber vor Gericht bedauert die Polizei, dass keine Aufnahmen der Auseinandersetzung im Zug vorliegen. Die Kameraausstattung von Zügen ist seitdem gewachsen.

Am Bonner Hauptbahnhof entschärft die Polizei im Dezember 2012 eine Bombe in einer Reisetasche. Den Täter aus der Bonner Salafistenszene identifizieren die Ermittler mithilfe einer Überwachungskamera. Dabei hätte es wohl gar keine Videoaufnahmen von Marco G. gegeben, wäre er nicht durch eine McDonald's-Filiale gelaufen. Keine der Bahnhof-Kameras hatte ihn im Blickfeld. Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich fordert: "Wir brauchen eine effiziente Videoüberwachung und Videoaufzeichnung auf öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen." Manchmal erledigt die Veröffentlichung von Videobildern sogar die Fahndung, weil die Täter ihre Flucht aufgeben. Im Juni 2012 veröffentlicht die Polizei ein Bild, es zeigt einen Mann in einer roten Jacke. Er steht auf dem Bahnsteig in Hamburg-Veddel und blickt auf einen verkrümmt auf den Gleisen liegenden Mann. Gerade eben hat er ihn nach unten gestoßen. Der Täter stellt sich einen Tag später. Moritz Geier

Die Tat ereignete sich schon im Oktober, am Mittwoch hat die Berliner Polizei nun den Mann identifiziert, der die Frau trat. Gefasst wurde er noch nicht, nur einer seiner Begleiter war Anfang der Woche vernommen worden. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt, ob der Angreifer sich womöglich ins Ausland abgesetzt hat, der Berliner Boulevardzeitung B.Z. zufolge soll er aus Bulgarien stammen.

Inzwischen haben mehrere Privatleute Belohnungen für Hinweise auf die Männer ausgesetzt, Prominente wie der Schauspieler Jan Josef Liefers riefen die Berliner zur gemeinsamen Suche auf. Auch international hat der Vorfall Aufsehen erregt: Wie eine Frau zufällig und aus heiterem Himmel Opfer roher Gewalt werden kann - zwischen ihr und dem Angreifer gab es zuvor keinerlei Kontakt.

Der 9/11-Effekt: Nach jedem Ereignis wollen Leute ihr Sicherheitsgefühl stärken

Und nicht zuletzt verstärkte der Vorfall den Eindruck, dass sich Frauen im öffentlichen Raum angeblich nicht mehr sicher bewegen können. So wie Anfang des Jahres, nach der Silvesternacht von Köln. Da sei er regelrecht mit Anfragen überschüttet worden, sagt Kampfsporttrainer Raphael Wildemann, der von Beruf eigentlich Architekt ist und dann auf Kampfsport umsattelte. Studentinnen meldeten sich an, Mütter mit ihren Töchtern, Ehemänner schickten ihre Frauen, "in einem Seminar hatte ich 70 Teilnehmerinnen". Jeder in der Branche habe damals "einen Frauen-Kurs angeboten".

Wildemann nennt es den "9/11-Effekt": Nach jedem Ereignis wollten die Leute ihr Sicherheitsgefühl stärken. Nach den Anschlägen in Paris hatte er Dutzende Seminarteilnehmer, die wissen wollten, wie man sich verhält, wenn plötzlich ein Gewehr auf einen gerichtet wird. Für 50 Euro lernte man dann, dass man erst das wehrlose Opfer mimen soll, um den Angreifer in Sicherheit zu wiegen. Und dann blitzschnell den Lauf der Waffe ergreift und ihn wegdrückt.

Dabei war der öffentliche Raum eigentlich schon lange nicht mehr so sicher wie heute. Beispiel Berlin, wo es pro Kopf doppelt so viele Straftaten gibt wie im bundesweiten Durchschnitt: Der Kriminalstatistik zufolge ist die Zahl der schweren Gewaltverbrechen in der Hauptstadt 2015 stark zurückgegangen und ist so niedrig wie seit den Neunzigerjahren nicht mehr. Auch die Übergriffe auf Straßen und Plätzen, in Bahnen und Bussen sind der Berliner Polizei zufolge weniger geworden.

Viele Anfragen für Kursplätze kommen derzeit von Männern

Was nicht heißt, dass Frauen keine Selbstverteidigungskurse besuchen sollen. Berlin-Schöneberg, hier hat der kleine Verein "Selbstverteidigung für Frauen" seinen Sitz, der nach eigenen Angaben der älteste seiner Art in Europa ist. Es gibt ihn seit 1976, der Zeit, als die Frauenbewegung groß wurde und Frauen lernen wollten, sich auch körperlich zur Wehr zu setzen. Die Kurse seien immer schon gut gelaufen, sagt Marina Salewski, Berliner Taekwondo-Meisterin, die hier seit vielen Jahren Frauen trainiert, Teenager genauso wie Rentnerinnen. Ihre Teilnehmerinnen stammen aus allen Schichten, viele tragen Kopftuch. Und einige haben selbst bereits Gewalt erlebt, auf der Straße oder in der Familie.

Dass das Interesse zugenommen hat, merkt man auch hier, wobei vor allem asiatische Kampfsportarten angesagt seien, Kickboxen und Bogenschießen. Wenngleich sich auch die Gründe verändert hätten, sagt Salewski. Kamen die Frauen früher, um zu lernen, wie man sich gegen eine plötzliche Attacke wehrt, wollen viele in den Kursen lernen, selbstbewusst aufzutreten und sich abzugrenzen. Weil sie sich allseits unter Druck fühlen, in der Schule, in der Familie, im Job, "der Stress geht ja schon morgens in der U-Bahn los", sagt Salewski, ein Phänomen, das sich übrigens nicht auf Frauen beschränke. Viele Anfragen, die Selbstverteidigungsvereine derzeit bekommen, seien von Männern.

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