Gewalt in Flüchtlingsheimen:"Viele Eltern sind nicht in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern"

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Eine Flüchtlingsunterkunft in Hameln. (Foto: dpa)

Warum Kinder von Gewalt in Flüchtlingsunterkünften besonders betroffen sind, erklärt Ursula Enders vom Verein "Zartbitter".

Interview: Hannah Beitzer

Ein Flüchtling aus Berlin soll ein ebenfalls geflüchtetes Mädchen missbraucht haben, dessen Vater geht auf ihn los - und wird von der Polizei erschossen. Der tragische Fall weist auf ein Problem: Kinder, die mit ihren Eltern in Flüchtlingsunterkünften leben, sind besonders gefährdet, Opfer von Gewalt und Missbrauch zu werden. Ursula Enders vom Verein "Zartbitter", der kürzlich die Broschüre " Flüchtlingskinder haben Rechte" veröffentlicht hat, erklärt die Gründe.

SZ: Frau Enders, sind Kinder in Flüchtlingsunterkünften ausreichend geschützt?

Ursula Enders: Ganz klar: Nein. Wir von Zartbitter haben bereits im vergangenen Herbst angefangen, uns mit dem Thema zu beschäftigen. Die Zustände, die uns begegneten und immer noch begegnen, sind erschütternd. In vielen Unterkünften besteht eine strukturelle Kindeswohlgefährdung, für die Kommunen, Betreiber und Länder verantwortlich sind.

Inwiefern?

Ein großes Problem ist, dass zwar die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge unter Aufsicht des Jugendamts stehen, von der Jugendhilfe betreut werden. Die Kinder und Jugendlichen aber, die mit ihren Eltern hierher kommen, sind mit ihnen gemeinsam in Unterkünften, die überhaupt nicht auf traumatisierte Kinder ausgerichtet sind. Wir haben Interviews mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen sowie den Mitarbeitern solcher Unterkünfte geführt und sind auf Probleme gestoßen, die mich fassungslos machen.

Deutschland rühmt sich ja gerade sehr dafür, Missbrauchsvorfälle der vergangenen Jahrzehnte in Heimen und kirchlichen Einrichtungen aufzuklären. Und dann schafft man auf der anderen Seite wieder geschlossene Strukturen, die sexuellen Missbrauch, Machtmissbrauch und Gewalt begünstigen. Obwohl man doch eigentlich aus der Vergangenheit weiß, welche Faktoren eine besonders gefährliche Lage für Kinder schaffen!

Was sind die größten Probleme in den Unterkünften?

In vielen Unterkünften gibt es überhaupt keine Privatsphäre. Da treffen zum Teil schwer traumatisierte Menschen in beengten Verhältnissen aufeinander. Kein Wunder, dass es dort zu Gewalt und Missbrauch kommt. Uns haben Kinder erzählt, dass sie sich nachts nicht auf die Toilette trauen, weil sie dafür nach draußen müssen, vorbei an allein reisenden Männern, vor denen sie Angst haben. Eine Lehrerin erzählte mir von einem Mädchen, das immer die ersten vier Schulstunden schläft - weil es nachts aus Angst vor Übergriffen in der Turnhalle nicht schlafen kann.

Wie verbringen die Kinder ihre Tage?

Häufig gibt es keine Freizeitbeschäftigungen für die Kinder. Das ist vor allem ein Problem, weil viele Kinder noch nicht zur Schule gehen und deswegen den ganzen Tag in der Unterkunft sind. Es gibt kaum Spielzeug, oder zu wenig - so dass sie in Streit geraten. In manchen Unterkünften gibt es einmal die Woche zwei Stunden Freizeitprogramm für die Minderjährigen, mit begrenzter Teilnehmerzahl. Das führt zu gewalttätigen Konflikten, zu Wut und dem Gefühl: Warum darf der andere, aber ich nicht?

Auch Lärm ist in den Turnhallen ein Problem. Viele Kinder sind dazu verdonnert, still zu sein. Sie dürfen gar nicht singen oder laut spielen, weil sie die anderen Bewohner damit stören würden. Viele Kinder reagieren mit massiven Auffälligkeiten. Einige sitzen den ganzen Tag stumm auf dem Bett und starren in die Ecke. Andere rasten in dieser angespannten Situation aus.

Welche Rolle spielen die Eltern für geflüchtete Kinder?

Der Staat geht ja davon aus: Kinder, die mit ihren Eltern hierher kommen, werden von Mutter und Vater betreut. Daher müssen sie nicht von der Jugendhilfe betreut werden. Doch viele Eltern sind nicht in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie sind selbst traumatisiert, müssen in einer neuen Umgebung zurecht kommen.

Häufig übernehmen die Kinder sogar eine Fürsorgerolle für die Eltern. Sie übersetzen für sie, trösten sie, wenn sie traurig sind. Ihre eigenen Sorgen stellen sie hintenan. Manchmal kommt es in dieser angespannten Situation auch zu häuslicher Gewalt. Eltern und andere Erwachsene, die selbst traumatisiert sind, können sich nicht kontrollieren und fügen Kindern Gewalt zu.

Bekommen die Kinder Hilfe von Mitarbeitern der Flüchtlingsunterkünfte?

Es gibt zwar in den meisten Unterkünften Beratungsangebote für Geflüchtete, aber die sind nicht auf Kinder zugeschnitten. Ein Kind wird eher nicht in eine allgemeine Sprechstunde kommen, die zwei Stunden die Woche angeboten wird. Da bräuchte es Pädagogen, die auf den Umgang mit Kindern spezialisiert sind. Die gibt es aber in den Unterkünften meistens nicht. Da ist manchmal nur die Leitung eine sozialpädagogische Fachkraft, der Rest Ethnologen, Politikwissenschaftler und andere Fachfremde - viele von ihnen Berufsanfänger.

Nachts ist dann oft nur noch die Security vor Ort. Das sind häufig junge Männer, die keine Schulung für den Umgang mit geflüchteten Kindern erhalten haben. Einige haben selbst eine belastete Vergangenheit, nicht wenige sind bereits durch gewalttätiges Verhalten aufgefallen. Einige Kinder haben uns berichtet, dass sie von der Security mit Kopfnüssen bestraft wurden, wenn sie in der Turnhalle laut spielten. Andere erzählten, dass Security-Männer ihnen nachts am Ohrläppchen zerren, wenn sie Albträume haben und schreien. Wenn sie sich beschweren, wird der Mitarbeiter häufig einfach nur in eine andere Unterkunft versetzt. Eine wirkliche fachliche Kontrolle gibt es nicht.

Von wem geht die größte Gefahr für die Kinder aus?

Neben der Security - leider häufig von anderen Geflüchteten. Es ist auch so, dass emotional unterversorgte Kinder selbst oft gewalttätig werden. So kann es zum Beispiel zum Streit kommen, weil ein Kind schon einen Schulplatz hat, ein anderes aber nicht. Wir haben auch Fälle von sexuellen Übergriffen durch Kinder und Jugendliche erlebt. Eine Gruppe, von der große Gefahr für Kinder ausgeht, sind also andere psychisch belastete Kinder.

Ein Problem ist auch sexuelle Gewalt durch Ehrenamtler. Viele Menschen, die sich als Paten oder in Initiativen engagieren, brauchen noch nicht einmal ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Übrigens geht die Gewalt nicht nur von Männern aus. Ich habe zum Beispiel auch Fälle erlebt, in denen deutsche Frauen 15- oder 16-jährige geflüchtete Jungen sexuell ausbeuten. Das ist ein richtiges Tabuthema.

Es ist aber zum Beispiel auch eine Form von Gewalt, wenn ehrenamtliche Dolmetscher Frauen und Kinder unter Druck setzen, sich bestimmten patriarchalen Regeln zu beugen. Immerhin hören wir nur selten von Fällen, in denen das pädagogische Fachpersonal gewalttätig wird.

Was tun die Unterkünfte und die Kommunen dagegen?

Viele Unterkünfte verlangen inzwischen polizeiliche Führungszeugnisse wenigstens von den Ehrenamtlern, die regelmäßig in den Einrichtungen arbeiten. Das ist ein Fortschritt. Doch ein Führungszeugnis allein ist kein ausreichender Schutz. In einigen Städten wird in Fällen von körperlicher und psychischer Gewalt oder sexuellem Missbrauch von Kindern jetzt auch automatisch das Jugendamt eingeschaltet. Nur: Dazu müssen die erst einmal bekannt werden.

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