Gewalt in der Schule:Das Martyrium hinter der Eisentür

Nach den Folterungen an dem Schüler der Berufsschule in Hildesheim fragt man sich wieder einmal, warum wieder einmal zuvor niemand etwas bemerkt hat.

Von Ralf Wiegand

(SZ vom 5.2.2004) - Die Schule der Zukunft könnte so aussehen wie im Hamburger Stadtteil St. Georg. Wer durch den gläsernen Eingang der Handelsschule Berliner Tor tritt, blickt direkt ins Objektiv einer Videokamera, einer von insgesamt 14, die in dem Gebäude verteilt sind.

Berufsschule Hildesheim

Die ins Gerede gekommene Berufsschule in Hildesheim.

(Foto: Foto: dpa)

Im Büro von Schulleiter Heinz Fänders, 56, steht ein Monitor, mit dem er jederzeit auf die Bilder zugreifen kann. Das Gebäude ist mit einer Alarmanlage gesichert, Bewegungsmelder und solche Sachen. Vielleicht werden bald alle Schüler Ausweise mit Chipkarten bekommen, die sie am Eingang als Zugangsberechtigte identifizieren. Heinz Fänders sagt, das sei "das dänische Modell". Man werde sich die verriegelten Schulen, die es dort gibt, ansehen. "Aber wir sind nicht Alcatraz", versichert der Schulleiter. Aber muss nicht eine Schule zur Festung werden, wenn nicht mehr das passieren soll, was gerade passiert ist?

Das Gefängnis im Materialraum

Das Gefängnis des 18-jährigen D. aus Nordstemmen bei Hildesheim lag im Keller der Werner-von-Siemens-Berufsschule in Hildesheim, im Materialraum. Der Fußboden ist gekachelt, schmucklose Wände, funktionelle Regale. Das Licht scheint kühl aus Neonröhren. Dort unten lagern Eisenrohre, Metallleisten, was man eben so braucht, wenn man auf einen Metall verarbeitenden Beruf vorbereitet werden soll.

Zweimal pro Woche schloss sich die Eisentür hinter D., immer mittwochs und donnerstags, dann stand auf seinem Stundenplan wieder Folter. Wie anders sollte man es nennen, was der Staatsanwalt herausgefunden hat: Zigaretten musste das Opfer essen, sich einen Eimer über den Kopf stülpen, auf den die Täter einschlugen.

D. musste sich ausziehen, damit die Klasse seine Wundmale besichtigen konnte. Die Videokamera, die das alles aufnahm, hatten die Täter selbst mitgebracht. Es waren Mitschüler von D. aus der Klasse 3 B. Das Martyrium, das sie anrichteten, wollten sie im Internet als Film verkaufen. Seit September vergangenen Jahres ging das so.

Mit einem Bein über der Klippe zum Nichts

Handelsschule, das klang früher nach etwas Besserem. "Die Handelsschule oder sogar die höhere Handelsschule waren respektierliche Bildungsgänge", sagt Heinz Fänders. Heute ist es anders, ganz anders. Handelsschüler, zudem solche im "Berufsvorbereitungsjahr", stehen am Rand der Bildungsgesellschaft, mit einem Bein schon über der Klippe zum Nichts.

Die Handelsschule, sagt der Hamburger Leiter der Schule Berliner Tor, sei "die Warteschleife verhaltensauffälliger und lerngestörter Jugendlicher". Nach der Hauptschule seien die meisten auf dem Lehrstellenmarkt schon ins Leere gelaufen. Perspektivlos, nicht fähig, sich zu konzentrieren, Motivation: null.

400 solcher Schüler hat Fänders an seiner Schule, neben den "völlig unauffälligen" 800 Berufsschülern. Die haben meistens Abitur und klare Ziele, in Hamburg wollen sie Schifffahrtskaufleute werden oder Fachkräfte für die Reisebranche. Die Handelsschüler sind die Problemklassen.

Still, schmächtig, schlau

Die Problemklasse 3 B in Hildesheim ist kein bisschen anders. Schuldirektor Hans-Hermann Sölter sagt, das Berufsvorbereitungsjahr absolvierten Jugendliche, die in ihrer alten Schule niemand mehr haben will. Die den Hauptschulabschluss versemmelt haben. Oft osteuropäische Aussiedlerkinder. Gäbe es die Schulpflicht nicht, käme wohl keiner freiwillig an eine solche Schule. Gute Leistungen sind hier sehr selten.

D. war ein guter Schüler, manchmal schrieb er eine Eins. Aber so etwas zählt hier nicht, vielleicht war das sogar der Grund, ausgerechnet ihn auszusuchen, den stillen, schmächtigen, schlauen D.. Oder weil er früher mal mit rechtsradikaler Kleidung auffiel, ohne aber die passende radikale Gesinnung gehabt zu haben? Es ist die übliche, verstörte Suche nach Erklärungen fürs schwer Erklärbare.

Die neue Hochsicherheitsschule

Heinz Fänders Hochsicherheitsschule in Hamburg ist jetzt in aller Munde, natürlich, denn man ist erschrocken über Hildesheim, wie man immer erschrickt in solchen Fällen. Brannenburg, 16. März 2000: Ein 16-jähriger Schüler erschießt den Internatsleiter. Meißen, 9. November 2000: Ein 15-jähriger Schüler ersticht eine Lehrerin. 26. April 2002: Erfurt. Die Termine für Führungen durch Heinz Fänders Hochsicherheitsschule sind ausgebucht, das Fernsehen ist da, die Schüler geben Interviews. Einer sagt, ihn störten die Kameras, weil er nicht mal in Ruhe eine rauchen könne.

Fänders ärgert sich darüber, dass jetzt alles reduziert wird auf das technisch Sichtbare, die Kameras und die Bewegungsmelder. Er hat "größere konzeptionelle Pläne", und dann spricht er von seiner Schule wie von einem Staat. Es gebe eben die "äußere Sicherheit" zur Abwehr von Gefahr von außen; in Hamburg hatten sich Dealer herumgetrieben, nachdem das Polizeipräsidium aus der Nachbarschaft weggezogen war. Solche Kriminelle vor allem sollen fern gehalten werden durch die High-Tech-Überwachung.

Aber ebenso wichtig sei die innere Sicherheit, die vertrauensbildenden Maßnahmen, damit sich die Schüler wieder ihren Lehrern offenbaren und die Lehrer mutig genug sind, zu reagieren. Es geht um den Aufbau von Zivilcourage, Hinsehen statt Wegschauen. Für all das, was Menschen in einer Gesellschaft brauchen, um zivilisiert miteinander umgehen zu können, müssen Schulen Programme entwickeln.

Fehlende Zivilcourage

In Hildesheim ist jetzt auch viel von Zivilcourage die Rede, weil niemand fassen kann, dass ein solches, sich wöchentlich wiederholendes Verbrechen unentdeckt bleiben konnte. Die vier Täter, die inzwischen gestanden haben, sich aber gegenseitig die Schuld zuschieben, hatten ihre Mitschüler zu Zeugen gemacht, in dem sie ihnen D.s Wunden vorführten. Die Lehrer sind ins Gerede gekommen. Haben sie wirklich nichts gemerkt? Oder können sie das frustrierende Umfeld nur aushalten, indem sie sich mit Gleichgültigkeit wappnen?

Ein Beschuldigter behauptet, dass ein Lehrer informiert gewesen sei, aber es gibt keinen Namen und keine Beweise. Die Schulleitung nimmt sowohl die Lehrerschaft, als auch die Eltern von D. in Schutz. Die Spuren der Misshandlung seien unter der Kleidung verborgen gewesen, "es war einfach nicht zu entdecken", sagt Rosi Fellendorf, die Schulsozialpädagogin.

Ganze Klasse abgeführt

Durch Rosi Fellendorf ist alles erst in Rollen gekommen. Sie hatte in einer Parallelklasse Wortfetzen aus der 3 B mitbekommen. Gewalt, Quälerei, Demütigung. Sie kam auf die Spur dessen, was die Staatsanwaltschaft "ein offenes Geheimnis unter den Schülern" nennt, sie kam auf die Spur von D.. Bis er ihr im persönlichen Gespräch offenbarte, was ihm seit 17 Wochen widerfuhr, vergingen Stunden. "Er hatte wirklich ungeheure Angst", sagt Rosi Fellendorf.

Nachdem sie alles wusste, informierte sie die Polizei. Die führte die gesamte Klasse ab, Täter und Mitwisser. Die Täter - ein Deutscher, ein Russland-Deutscher, ein Kasache und ein Türke - sitzen in Untersuchungshaft. Einer sagte zum Staatsanwalt: "Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich mich umgebracht."

Der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann ist entsetzt, aber er wäre kein Politiker, hätte er nicht schon einen Plan. In der Hauptschule, die immer vor dem Berufsvorbereitungsjahr stehe, müsse die Sozialarbeit verbessert werden. Fünf Millionen Euro gibt das Land Niedersachsen in diesem Jahr dafür aus. Aber auch für Busemann bleibt es "verwunderlich, wie 17 Wochen lang ein solcher Vorgang geheim bleiben konnte".

Heinz Fänders macht weiter mit seiner sicheren Schule, er hat ja auch schon Ergebnisse zu verzeichnen. "Unsere Schule sieht sehr ordentlich aus", sagt er, Graffiti gibt es kaum, ein Einbruch wurde bereits verhindert und manche Straftat aufgeklärt. Vielleicht bekommen die Lehrer Alarmsender - man wird sich anschauen müssen, was man noch braucht.

Neun Schüler im Alter von 17 Jahren sollen den Klassenkameraden Monate lang in den Pausen gequält und auch gefilmt haben. Vier Jugendliche sitzen in Untersuchungshaft. Mitschüler sollen von den Misshandlungen gewusst und nichts unternommen haben.

Unklar blieb, ob das Opfer wieder an die Werner-von-Siemens-Schule zurückkehren wird. Der 17-Jährige, der als schüchterner Schüler gilt, wird psychiatrisch betreut. Er habe gute Leistungen erbracht und strebte einen Metallberuf an, sagte der Schulleiter.

Der Schüler war früher durch Kleidung aus der rechten Szene, wie Bomberjacken und Springerstiefel, aufgefallen. Eine rechtsextreme Gesinnung habe er aber nicht gezeigt, sagte Schulsozialpädagogin Fellendorf.

Nach Meinung von Opferschützern hatte sich an der Schule möglicherweise ein Teufelskreis des Schweigens gebildet. Bei längeren Gewaltexzessen werde es für die Beteiligten immer schwieriger, das Schweigen zu durchbrechen, sagte ein Sprecher der Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer "Weißer Ring".

Es könne eine verheerende Art von Gewöhnung eintreten. Auch Angst und Willensschwäche können aus Sicht des Hildesheimer Psychologens Werner Greve eine Mauer des Schweigens auslösen. "Sie hatten wahrscheinlich die ganz persönliche Angst, an die Stelle des Opfers zu rücken."

Der Berufsschullehrer-Verband Niedersachsen berichtete, es sei nicht ausgeschlossen, dass Lehrern Auseinandersetzungen unter Schülern verborgen blieben. Bei großen Gebäuden mit 2000 bis 3000 Schülern lasse sich immer eine Ecke finden, um unterzutauchen, sagte Verbandsvorsitzender Heinz Ameskamp in Cloppenburg.

"Es ist nicht möglich, jeden Schüler zu beobachten." Von Video-Überwachung auf Schulhöfen etwa hält Ameskamp aber nichts.

Laut Staatsanwaltschaft war der Berufsschüler in den Pausen und auch während der Unterrichtszeit in einem Materialraum brutal verprügelt und dabei nackt gefilmt worden.

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