Gewalt in Berliner U-Bahnhöfen:Alleingelassen

Für Markus P. und Marcel R. ist es nicht leicht, zurück ins Leben zu finden: Sie wurden fast zu Tode geprügelt. Die Verletzungen schmerzen - und das Gefühl, keine Hilfe zu bekommen. Interessiert sich der Staat nur für die Täter? Ein Besuch bei zwei Opfern der jüngsten Berliner U-Bahn-Attacken.

Thorsten Schmitz

Draußen scheint die Sonne, es ist warm, die Pollen fliegen. Drinnen im Wohnzimmer steht die Luft. Alle Fenster und die Balkontür sind geschlossen. Markus P. hat Heuschnupfen. Er darf auf keinen Fall niesen, hat ihm der Neurologe gesagt. Ein heftiger Niesanfall könnte jetzt eine Hirnblutung verursachen. Markus P. ist 29 Jahre alt. Er trägt einen weißen Jogginganzug und sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Eltern. Er wirkt in sich gekehrt, sein Blick leer.

Mann im U-Bahnhof Friedrichstrasse brutal misshandelt

In der Nacht zum Ostersamstag wird Markus P. in Berliner U-Bahnhof Friedrichstraße zusammengeschlagen. Der Täter, der Schüler Torben P., muss nicht in Untersuchungshaft.

(Foto: dapd)

Markus P. hat am 23. April am Berliner Bahnhof Friedrichstraße auf eine U-Bahn gewartet, und nun wohnt er wieder bei seinen Eltern. Er könnte jetzt, nach all dem, auch nicht alleine sein. Die Angst kriecht manchmal in ihm hoch. Am Ende des Besuchs bittet er, folgenden Satz zu notieren: "Ohne meine Eltern und meine drei Geschwister würde ich das alles nicht durchstehen."

"Das alles" sind: Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und Gedächtnislücken. Beim Treppensteigen "vergisst" Markus P. manchmal, eine Stufe zu nehmen. "Das alles" sind auch: Eine taube Lippe, Sprachstörungen, eine zerrissene Nasenscheidewand und zertrümmerte Nase, hämmernde Kopfschmerzen, Platzwunden an Schläfen und unter dem Auge, Gleichgewichtsstörungen, große Erschöpfung. "Ich kann 20 Stunden am Tag schlafen", sagt Markus P. Er versucht zu lächeln. Es bleibt beim Versuch. Sein Gesicht ist zu stark geschwollen.

Marcel R. ist drei Tage wie vom Erdboden verschluckt. Drei Tage lang wissen seine Schwester Katja de Graaf und seine Mutter nicht, dass er im Koma liegt. Als die Schwester die Intensivstation betritt, sagt die Krankenschwester: "Atmen Sie tief durch, Sie müssen jetzt ganz stark sein." Am Krankenbett ist Katja de Graafs erster Gedanke: "Das ist eine Verwechslung, das ist nicht Marcel."

Die Angst, die immer wieder aufsteigt

Er ist es doch. Sein Kopf? "Aufgeblasen wie ein Ballon." Die Augen? "Offen, aber starr." Katja de Graaf erkennt ihren Bruder erst, als sie das Laken zurückschlägt und Hände und Beine sieht.

Vier Wochen liegt Marcel R. im Koma - weil er mit der U-Bahn nach Hause fahren wollte. Vier Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren prügeln ihn auf dem U-Bahnhof Lichtenberg fast zu Tode.

Die linke Schädeldecke muss herausgetrennt werden, um die Streublutungen zu stillen und um dem Gehirn nach den Fußtritten Platz für die Schwellung zu verschaffen. Das Stück Schädeldecke von Marcel R. wird bei minus 80 Grad frischgehalten.

Es ist ein Wunder, sagen die Ärzte, dass Marcel R. und Markus P. noch leben. Auf YouTube kann man sich Filme anschauen, wie die beiden, schon auf dem Boden liegend, fast totgetreten werden. Kein Wunder ist, dass in Marcel R. und Markus P. seit den Mordversuchen immer wieder Angst aufsteigt.

Der Abiturient Torben P., 18, hat Markus P. in der Nacht zu Ostersamstag auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße eine Bierflasche auf den Kopf geknallt und ihn danach mit Tritten auf den Kopf fast totgetreten. Hätte ein Tourist nicht eingegriffen, wäre Markus P. heute tot.

"Menschenverachtender Vernichtungswillen"

Als Markus P. aus dem Koma erwacht und zufällig sich selbst im Fernsehen am Boden liegend sieht, erleidet er einen Schock. "Ich dachte: Das kann nicht wahr sein, dass ich das bin. Der hat meinen Tod in Kauf genommen."

Der Opferbeistand von Markus P. sagt, Torben P. sei von einem "menschenverachtenden Vernichtungswillen" getrieben worden. Wegen der aktuellen Rechtslage sah sich der zuständige Berliner Haftrichter gezwungen, den Schüler Torben P. von Untersuchungshaft zu befreien. In Deutschland gibt es strenge Voraussetzungen für die U-Haft. Die Familie jedenfalls hat jetzt Anzeige wegen Mordversuchs gestellt und tritt als Nebenklägerin auf.

Torben P., von dem es heißt, er stamme aus "geordneten Verhältnissen", ist am Montag von seiner Schule zunächst für zehn Tage vom Unterricht ausgeschlossen worden. In dieser Zeit sollen Mitschüler und Pädagogen von Schulpsychologen betreut werden. Manche Mitschüler haben gesagt, sie hätten jetzt Angst vor Torben P.

Ein weiterer Tritt ins Gesicht

Die Familien von Markus P. und Marcel R. können es so richtig nicht fassen: Dass man ausgerechnet sie alleine lässt. Dass man nicht ihnen die Hilfe von Psychologen anbietet. Dass ein Nachrichtenmagazin auf der Titelseite ein Foto des bewusstlosen Markus druckt, aber in der Geschichte dann nur von den Tätern die Rede ist. Die Familien wundern sich, dass alle über die Täter reden und über den sogenannten "Warnschussarrest" und allerlei Begründungen für Gewaltexzesse liefern. "Niemand", sagt der Vater von Markus P., "wirklich niemand hilft uns. Niemand von der Stadt Berlin hat sich bei uns gemeldet, niemand von der BVG. Und niemand hat uns mal gesagt, wie man mit den Medien umgeht."

Erst Opferbeistand Thomas Kämmer hat ihnen erklärt, wie man sich vor Reportern schützt, die unangemeldet vor der Haustür stehen. Immer noch, sagt der Vater, der seit 27 Jahren bei der Feuerwehr arbeitet, "stehen wir alle wie neben uns". Markus P. hat der Berliner Justizsenatorin einen Brief geschrieben, er versteht nicht, dass Torben P. nicht in U-Haft sitzt: "Es ist für mich ein weiterer Tritt ins Gesicht, dass der Täter sofort wieder freigelassen wurde." Die Justizsenatorin hat noch nicht geantwortet.

Der Vizechef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Bernd Carstensen, sagt: "Es schreckt mich, mit welcher Abfälligkeit jemand mit dem Fuß auf den Kopf eines Opfers tritt. Was ich mit den Füßen trete, kann auch ein Insekt sein, das niedrigste Lebewesen." Carstensen äußert Unverständnis über Torben P.s Freiheit: "Es reicht nicht, zur Polizei zu gehen, zu sagen, tut mir leid, ich war betrunken, und dann wieder nach Hause zu gehen." Das sende ein falsches Signal.

Markus P. ist jetzt müde geworden, es fällt ihm nicht leicht zu folgen, wenn die Eltern und seine Schwester durcheinander reden. Er grübele oft, sagt er. "Was ich nicht verstehe: Ich liege wehrlos am Boden, und der tritt immer weiter auf meinen Kopf ein. Früher hat man aufgehört, sich zu kloppen, wenn einer am Boden lag."

"Wir schlagen alle Deutschen zusammen"

In einer Berliner Zeitung stand, Torben P. wolle sich bei Markus P. entschuldigen. Markus P. ist Gas- und Wasserinstallateur. Wann er wieder arbeiten wird, ist unklar. Mit leiser Stimme sagt er: "Der könnte mir sagen, dass es ihm leid tut, aber das ginge in ein Ohr hinein und durchs andere hinaus. Was er mir angetan hat, dafür gibt es keine Entschuldigung. Er hätte mich umbringen können."

Drei Tage lang wissen Katja de Graaf und ihre Mutter nicht, wo Marcel R. ist, weil die Polizei zunächst nicht weiß, wer Marcel R. ist. Eine Kamera hat den Überfall auf ihn festgehalten. Im Film sieht man, wie der Malergeselle regungslos am Boden liegt und einer der Jugendlichen das Handy und die Brieftasche von Marcel R. entwendet.

Als Marcel R. nach einem Monat im Koma das Bewusstsein wieder erlangt, ist seine gesamte rechte Körperhälfte gelähmt. Er sucht Worte, findet aber keine. Nachts brüllt er um Hilfe, weil er glaubt, er sei ans Bett gefesselt und von einer Schlange gebissen worden. Nur langsam findet er wieder zurück in die Realität. In den ersten Wochen muss er im Rollstuhl sitzen, wieder laufen lernen, auch das Sprechen. Jeden Tag hat er Sitzungen mit Logopäden und Physiotherapeuten, mit Neurologen und Ergotherapeuten. Er wartet jetzt auf einen Platz in der Rehabilitation. Seine Wohnung haben sie aufgelöst, weil er erst mal nicht allein sein soll. Und auch nicht alleine sein will. Wenn im Krankenhaus-Park mehr als drei Menschen auf ihn zukommen, gerät er in Panik.

Das Gefühl des "Alleingelassenwerdens"

Seit dem 15. Februar fühlen sich die Schwester und die Mutter allein gelassen. Allein mit der Hauptstadtpresse, die Fotos braucht vom Opfer, alleine mit der Bürokratie. "Nichts und niemand kam auf uns zu", sagt Katja de Graaf mit ruhiger Stimme. Sie ist von Beruf Krankenschwester und hat schon viel gesehen. Aber zu schaffen gemacht habe ihr "das Alleingelassenwerden". Niemand habe den Kontakt gesucht zur ihrer Familie. Kein Politiker, keiner von der BVG.

Deren Pressesprecher, Klaus Wazlak, sagt, die BVG könne nicht verantwortlich gemacht werden für die Attacken in den U-Bahnhöfen. "Wir sind ein Dienstleister und befördern die Menschen von A nach B." Bei 173 U-Bahnhöfen sei eine völlige Kontrolle unmöglich. Wazlak gibt aber zu: "Es muss etwas in der gesellschaftlichen Entwicklung schiefgelaufen sein, dass man heute Verstümmelungen und den Tod des Opfers in Kauf nimmt. Früher hätte man aufgehört."

Jetzt haben die Ärzte Marcel R. das Stück Schädel wieder eingesetzt. Sie hoffen, dass es nicht abgestoßen wird. Die Schwester ist froh und wütend zugleich. Froh, dass ihr Bruder lebt und die Sache jetzt vor Gericht kommt. Und wütend auf die Täter und deren Freunde. Im Internet hat der Freund eines Täters sogar in krudem Deutsch zum Überfall gratuliert: "Ja, mein Bruder, du bist der King. Wir schlagen alle Deutschen zusammen so wie die anderen, die wir schon haben".

Geholfen haben Marcel R. der Opferbeistand - und ganz normale Berliner. Auf einem Spendenkonto sind bis heute 45.000 Euro zusammengekommen. Mit dem Geld soll Marcel R. sein neues Leben finanzieren können. Er werde noch viel Geduld brauchen, sagen die Ärzte. Katja de Graaf hat ihrem Bruder jetzt erst mal ein Notebook gekauft. Er hat noch nie eines besessen. Die Ärzte haben gesagt, das sei sehr gut, um Feinmotorik zu üben. Marcel R. vertippt sich noch oft.

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