Gewalt gegen Kinder:Zahl der misshandelten Kinder nimmt zu

Steuererklärung Alleinerziehende

Zum Opfer werden Kinder meist im Vertrauten. In der Familie, bei Freunden, in der unvermeidbaren Abhängigkeit von den Älteren.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)
  • Im Jahr 2014 wurden in Deutschland durchschnittlich zwei Kinder pro Woche getötet, 40 Kinder wurden jeden Tag Opfer sexueller Gewalt, zwölf erfuhren pro Tag körperliche Gewalt.
  • Während die Zahl der Tötungsdelikte seit Jahren zurückgeht, steigen die Fälle von Misshandlungen an Kindern.
  • Es sind die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zu jungen Gewaltopfern, die die Deutsche Kinderhilfe gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt vorgestellt hat.

Von Friederike Zoe Grasshoff, Berlin

Zum Opfer werden sie meist im Vertrauten. In der Familie, bei Freunden, in der unvermeidbaren Abhängigkeit von den Älteren. Im Jahr 2014 wurden in Deutschland durchschnittlich zwei Kinder pro Woche getötet, 40 Kinder wurden jeden Tag Opfer sexueller Gewalt, zwölf erfuhren pro Tag körperliche Gewalt. Soweit die kalten Daten ohne Gesicht oder Namen - es sind die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik zu jungen Gewaltopfern, die die Deutsche Kinderhilfe gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt in Berlin vorgestellt hat.

Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), sprach im Saal der Bundespressekonferenz von den "Verbrechen an den Schutzbedürftigsten unserer Gesellschaft": Der Kriminalstatistik 2014 zufolge wurden im vergangenen Jahr insgesamt 108 Kinder Opfer eines Tötungsdelikts, fast 75 Prozent von ihnen seien zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre alt gewesen. Zudem wurden 81 Fälle von versuchter Tötung registriert.

Damit habe sich die Zahl der getöteten Kinder im Vergleich zum Vorjahr um fast dreißig Prozent verringert. Dies sei eine positive Entwicklung, ein " Trend der letzten Jahre" - und "kein einmaliger statistischer Effekt". Münch wies darauf hin, dass bei all diesen Fällen die Beziehungen zwischen Opfern und Tätern in der Regel so seien, dass es sich um ein "Beziehungs- oder Betreuungsverhältnis" handle.

Während die Zahl der Tötungsdelikte seit Jahren zurückgeht, steigen laut BKA jedoch die Fälle von Misshandlungen an Kindern: 2014 seien 4204 Fälle verzeichnet worden. Damit ist diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren stetig gestiegen, und zwar um fünf Prozent. In diesem Zusammenhang wies der BKA-Präsident jedoch darauf hin, dass es eine "kontinuierliche Aufhellung des Dunkelfeldes" gebe. Sowohl die Sensibilisierung gegenüber Misshandlungen als auch die Bereitschaft derlei Taten zur Anzeige zu bringen sind Münch zufolge gestiegen.

Die Zahl der erfassten Fälle von sexueller Gewalt gegenüber Kindern lag im Jahr bei 14 395 Fällen. Dies ergibt im Vergleich zu 2013 zwar einen Rückgang um von drei Prozent, allerdings stieg die Zahl der Betroffenen unter sechs Jahren um 35 Prozent an. Auch hier stammen die Täter oft aus dem vertrauten Umfeld.

Welcher Fünfjährige erstattet schon Anzeige

Dass diese Misshandlungen meist im vermeintlichen Schutzraum der Familie geschehen, führt dazu, dass sich viele Betroffene in Schweigen oder Scham flüchten; Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Rainer Becker, Vorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, sagte, dass er gerade bei Misshandlungen von einem zwanzigfachen Wert ausginge. Welcher Fünfjährige erstattet schon Anzeige gegen seine eigenen Eltern?

Auch der Besitz und die Verbreitung von kinderpornografischem Material sind weiterhin ein gravierender Bestandteil der Kriminalstatistik: Trotz gestiegener öffentlicher Aufmerksamkeit haben sich die vom BKA erfassten Fälle um nur 1,5 Prozent verringert. "Angesichts des Massenphänomens Kinderpornografie entwickeln wir automatisierte Verfahren, um neue pornografische Bilder noch schneller erkennen zu können", sagte Holger Münch.

Die Verhinderung sexuellen Missbrauchs habe höchste Priorität, dazu nutze das BKA alle Möglichkeiten: "Von gezielten Öffentlichkeitsfahndungen an Schulen bis hin zur Teilnahme an internationalen Operationen von Europol und Interpol."

"Er zerrte an meinem Kleid"

Angesichts dieser bedrückenden Zahlen forderte Becker Verbesserungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Prävention und Strafverfolgung müssten stärker ineinandergreifen. Das Mindeststrafmaß aller gegen Kinder gerichteten Vorsatzstraftaten müsse auf ein Jahr erhöht werden, sagte er. Zugleich müssten diese Taten auch als Verbrechen qualifiziert werden. Betroffene Kinder müssten sowohl während als auch nach den Strafverfahren begleitet werden. Außerdem forderte er einen unabhängigen Kinderschutzbeauftragten.

108, 4204, 14 395 - es sind kalte Zahlen, die im Saal hängen. Tausende Datensätze, beschämende Statistik - und doch nicht greifbar. Als Becker zu Beginn seiner Rede den anonymen Leidensbericht einer jungen Frau vorliest, wird es noch stiller im Saal: "Ich war fünf Jahre alt, auf den Campingausflug hatte ich mich lange vorbereitet, ein Freund meines Vaters kam abends zum Lagerfeuer dazu, er meinte, wir sollten doch ein wenig Feuerholz sammeln und nahm mich mit. Kaum hatte ich mich neben ihn gesetzt, drückte er meine Schultern nach unten. ,Ich will nicht liegen', protestierte ich, doch schon sah ich nichts über mir als einen riesigen Kopf und spürte seinen schweren Körper. Er schlug mir die Beine auseinander und zerrte an meinem Kleid."

Es ist eine von vielen Geschichten, in denen es keinen Retter gibt, nur ein Kind und einen Täter. Es ist nur eine Geschichte hinter dieser Statistik.

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Vor einigen Tagen hat Balthasar Müller hier über die Misshandlungen in seiner Kindheit berichtet.

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