Gewalt gegen Kinder:Das Internet ist das neue Dunkelfeld

Kind Junge Schulkind schaut gebannt auf ein Tablet und liest schaut Filme an Smartphone Handy Comput

Blick in den Abgrund? Heute ist das leider allzuleicht möglich.

(Foto: imago/Sven Simon)

Experten schätzen, dass heute kein Kind im digitalen Raum aufwachsen kann, ohne nicht wenigstens einmal mit einem Sexualstraftäter konfrontiert zu werden. Der Staat muss sie besser davor schützen.

Kommentar von Ulrike Heidenreich

Was ist Gewalt gegen Kinder? Ist es: Prügeln, Verletzen, Vergewaltigen, Erniedrigen, Verwahrlosenlassen? Oder ist es neuerdings: Grooming, Hate Speech, Cybermobbing, brutales Ballerspiel? Es ist alles - und noch vieles mehr. Die neue Definition eines Begriffs, der unfassbares Leid und unendliche Gefahr birgt, ist dringend nötig. Die Frage, wo Gewalt gegen Kinder beginnt und wo sie aufhört, muss sich jede Gesellschaft aufs Neue stellen. Weltbild und Erziehungsstile verändern sich. Alle paar Jahrzehnte werden Nuancen angepasst, Grenzen verschoben. Diese, unsere, Gesellschaft aber steht im Internetzeitalter vor noch nie da gewesenen Schwellen: Eine neue Gewalt gegen Kinder wütet im Netz. Sie werden psychisch und physisch verletzt. Der Jugendschutz versagt hier komplett. Die Reaktionen sind hilflos.

So bedrückend die Auswertung der Kriminalstatistik über misshandelte Kinder jedes Jahr ist, trägt sie doch eine gute Nachricht in sich, so unpassend dies auch klingen mag. Die Zahlen steigen seit Jahren auch deshalb, weil mehr Gewalttaten angezeigt werden. Die Sensibilität und das Unrechtsbewusstsein wachsen. Kriminologen sprechen hier von einer Aufhellung des Dunkelfelds.

Es gibt aber ein neues Dunkelfeld, das rasant andere Dimensionen annimmt und dem Strafverfolgung und Gerichte nicht beikommen. Gemeint ist nicht nur das monströse Darknet, in dem Kriminelle mit Pornografie, Waffen und Drogen handeln. Nein, düster ist auch, was ganz legal mit einem Klick erreichbar ist - für jeden Minderjährigen. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, warnt nicht von ungefähr davor, dass das Risiko für Kinder gestiegen sei, beim Chatten oder bei Online-Spielen Opfer sexueller Gewalt zu werden. Cyberkriminologen schätzen, dass heute kein Kind im digitalen Raum aufwachsen kann, ohne nicht wenigstens einmal mit einem Sexualstraftäter konfrontiert zu werden.

Die Einfallstore sind vielfältig. Die Täter geben sich als Minderjährige aus auf Onlinediensten wie Instagram oder Musical.ly, sie kontaktieren Kinder über Apps mit Chatfunktion, klinken sich raffiniert bei eigentlich kindgerechten Plattformen mit Tipps zur Ponypflege ein. Kontrollieren kann das niemand mehr. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, eine honorige Behörde, die es seit 1954 gibt, hantiert weiterhin mit dem Verbot von Büchern oder CDs. Und räumt ein, dass das Abschirmen von Jugendlichen im Internet kaum funktioniere. Denn die Ladentische, über die früher indizierte Schriften nicht mehr verkauft werden durften, gibt es im Internet nicht.

Minderjährige müssen dringend besser aufgeklärt werden über die Gefahren im Internet

Es ist dringend nötig, Kinder besser zu informieren und zu warnen - durch ein verpflichtendes Schulfach, das die Medienkompetenz schärft. Internetanbieter, die sich nicht um den Schutz von Jugendlichen scheren, müssten mit richtig harten Konsequenzen rechnen. Auch bei der Strafverfolgung muss nachgeholt werden: Mehrere Landesjustizminister wollen verdeckten Ermittlern im Kampf gegen Kinderpornografie erweiterte Befugnisse geben. Diese sollen computergenerierte Bilder von Kindesmissbrauch verwenden dürfen, um sich "szenetypisch" zu verhalten. Das ist heikel, aber schlüssig. Der Kinder- und Jugendschutz im Netz muss modernisiert werden. Denn das jetzige Recht ist noch auf dem Stand der Spielekonsolen von anno dazumal.

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