Getötete Kinder:Das Erbe des Mädchens Yagmur

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Das Grab der dreijährigen Yagmur in Hamburg. Das Kind starb 2013. (Foto: Georg Wendt/dpa)

2013 starb die Dreijährige durch die Hand ihrer Mutter. Dieser Tage beschäftigt Hamburg erneut ein Fall von Kindestötung. Was hat der Staat also aus dem Fall Yagmur gelernt?

Von Thomas Hahn, Hamburg

Jamie ist noch kein Jahr alt und schon ein Symbol für den Horror des Alltags. Sein Vater muss sich von diesem Donnerstag an vor dem Landgericht in Hamburg verantworten. Er soll das Kind eines Morgens im April aus dem Bettchen gehoben und so heftig geschüttelt haben, dass es Blutungen im Kopf erlitt. Der Vater, arbeitslos, hatte Probleme mit der Polizei wegen Körperverletzung und Drogen. Er und Jamies Mutter standen unter Aufsicht des Jugendamtes. Jamie wird sich nie mehr richtig erholen. Er wird mindestens taub und blind bleiben. Falls er überlebt.

Der Junge ist das Opfer einer Elterngewalt, die den Staat an seine Grenzen führt. Wie Chantal, elf, die 2012 starb, weil sie das herumliegende Methadon ihrer drogensüchtigen Eltern schluckte. Wie Yagmur, drei Jahre, die Ende 2013 nach qualvollen Monaten von der Hand ihrer Mutter starb.

Jamie. Chantal. Yagmur. Die Namen stehen da wie eine Anklage. Und weil alle drei Kinder in Hamburg zu Tode kamen, widmet sich die Hansestadt dieser Anklage mit besonderem Ehrgeiz, der nach Möglichkeit auf ganz Deutschland abstrahlen soll. Wie kriegt man es hin, dass die Behörden Kinder nicht mehr in die Obhut von Eltern entlassen, die keine Verantwortung für sie übernehmen können? Vor allem vom Fall Yagmur geht ein Reformeifer aus, an den man sich dieser Tage wieder erinnert. Erstens wegen Jamie. Zweitens weil vor knapp einem Jahr ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA) unter Vorsitz des CDU-Politikers André Trepoll 33 Empfehlungen verabschiedete, die den Kinderschutz verbessern sollten.

André Trepoll sitzt in seinem Hamburger Rathausbüro. Seit der Wahl im Februar ist er Fraktionschef und damit Oppositionsführer. Die Gelegenheit wäre günstig, Hamburgs rot-grüne Regierung mit ein paar gezielten Wortsalven niederzureden, um sich mit einem Thema zu profilieren, das über Hamburgs Grenzen hinausweist. Aber Trepoll bleibt ruhig. Er denkt an Yagmurs Vermächtnis und kann jetzt irgendwie nicht schimpfen. Einmal sagt er sogar: "Wir sind auf einem guten Weg."

Immerhin: Das System ist mittlerweile sensibler geworden

Das Thema ist zu groß für kleinliches Gebell. Kaum ein Einzelschicksal hat Hamburg derart berührt wie jenes der kleinen Yagmur. 83 äußere Verletzungen zählte der Rechtsmediziner Klaus Püschel am Leichnam des Mädchens. Unter dem Radar der Stadtgesellschaft hatte sich ein Kindsmord von beispielloser Brutalität ereignet. Selten herrschte unter den Fraktionen so viel sachliche Zusammenarbeit wie bei der Aufarbeitung dieses Falles. Das Ringen um die richtigen Schlüsse zehrte und prägte die Beteiligten. Trepoll sagt: "Das Thema wird mich in meiner politischen Vita nicht mehr loslassen." Aber was macht die Politik nun aus den Lehren?

Trepoll will das selbst wissen. Schon im Juli stellte er deshalb zusammen mit Abgeordneten von SPD, FDP und Grünen eine Große Anfrage an den Senat. Melanie Leonhard, 38, im Untersuchungsausschuss Obfrau der SPD-Fraktion, gehörte auch zu den Absenderinnen der Anfrage, was jetzt ein bisschen lustig ist. Denn mittlerweile müsste sie die Anfrage an sich selbst stellen: Sie ist kürzlich zur Sozialsenatorin befördert worden. Statt in ihrem Harburger Abgeordnetenbüro wie zu Zeiten des PUA empfängt Melanie Leonhard deshalb jetzt in der Sozialbehörde, Barmbek, Hamburger Straße, zehnter Stock, in ihrem neuen, geräumigeren Arbeitszimmer.

Sie wirkt etwas gesetzter als damals, aber immer noch nah an der Sache. Den Tod Yagmurs trägt auch sie weiter mit sich herum, und wenn sie nun eine eher positive Zwischenbilanz zieht, kann man ihr abnehmen, dass sie das nicht nur tut, weil sie den Senat gut aussehen lassen will.

Es waren mehrere Fehler, die im Zusammenspiel von Jugendämtern, Familiengerichten und Staatsanwaltschaften die Katastrophe begünstigten. Yagmur lebte zunächst bei einer Pflegemutter, weil ihre leiblichen Eltern überfordert waren. Dann griffen die Elternrechte, und die Behörden erkannten nicht, was die Rückkehr zu den leiblichen Eltern für Yagmur bedeutete.

Es gibt eine Ohnmacht vor der zerstörerischen Energie der Eltern

Schon während der PUA arbeitete, setzten Neuregelungen ein, um solchen Fehlern vorzubeugen: Überarbeitete Fachanweisungen sollen das Bewusstsein der Jugendamts-Mitarbeiter für Anzeichen auf Kindesmissbrauch schärfen. Mehr denn je schicken die Jugendämter Kinder mit verdächtigen Verletzungen in die Rechtsmedizin der Universitätsklinik Eppendorf. Und ein neues Personalbemessungssystem greift, "das bundesweit seinesgleichen sucht", wie Leonhard sagt. Nach einem ausgeklügelten Modus können die Jugendämter berechnen, wo sie wie viele Mitarbeiter brauchen, um Familien mit Problemen zu betreuen. Rund 70 neue Stellen gibt es. Das System ist sensibler geworden.

Und die Justiz? Hamburgs Staatsanwaltschaft zeigte sich in der Schuldfrage am wenigsten einsichtig. Dabei lag im Januar 2013, als Yagmur wieder bei den leiblichen Eltern war, eine Anzeige des Rechtsmediziners Püschel vor, nachdem dieser bei Yagmur unter anderem ein Schädel-Hirn-Trauma festgestellt hatte. Ermittelte die Staatsanwaltschaft tief genug? Der damalige Generalstaatsanwalt Lutz von Selle sagt, die zuständige Staatsanwältin habe keinen Fehler gemacht. "Trotzdem ist etwas Verheerendes passiert", entgegnet Leonhard: "Es kann also juristisch schon sein, dass nach allen Regeln der Kunst kein Fehler gemacht wurde. Aber vielleicht sind die Regeln der Kunst falsch." Immerhin, es gibt mehr Kinderschutz-Fortbildungen für Staatsanwälte - das zeigt ihr, dass auch diese Bedarf zum Nachsitzen sehen.

Kinderschutz ist eine ewige Baustelle, und Melanie Leonhard sieht dabei eine Ebene im Stillstand: die bundespolitische. Das Familienministerium in Berlin hat auf Hamburgs Initiative hin eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Stärkung der Kinderrechte" eingerichtet, die 2016 Ergebnisse vorlegen soll. Aber vorerst steht Elternrecht in Deutschland über Kinderrecht. Das kostet den Staat Möglichkeiten, im Verdachtsfall einzuschreiten. "Es wäre so wichtig, wenn zumindest formal die Kinderrechte als eigenständiges Rechtsgut im Grundgesetz verankert würden", sagt Leonhard, "dass es nicht gelingt, da bundesweit spürbar einen Schritt voranzukommen, frustriert mich sehr." Die CDU in Bund und vielen Ländern spielt nicht mit. Ihr imponiert dabei offenbar auch die Haltung der Hamburger Parteifreunde nicht. "Ich finde es richtig, dass man darüber spricht", sagt Trepoll. Allerdings kennt er die Argumente gegen eine Reform. "Wo ist die Schwelle, an der der Staat eingreifen soll? Schwierig."

Das Dilemma ist kaum in den Griff zu kriegen. Es gibt eine Ohnmacht vor der zerstörerischen Energie von Eltern, die ihr Kind behalten wollen, aber es nicht richtig lieben können. Jamie ist ihr Opfer geworden, und die Senatorin Leonhard fühlt sich herausgefordert von den Lücken, die diese Ohnmacht befördern. Sie will das Thema hochhalten. Und zwar mit bohrender Beharrlichkeit. Sie sagt: "Ich werde notfalls sehr nerven."

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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