Gesundheitsysteme:Aus der Not geboren

Die hoch technisierten Gesundheitssysteme der Industrienationen können von Entwicklungsländern lernen.

Von Ulrich Kraft

Wenn es darum geht, die Gesundheitsprobleme der Welt zu lösen, spielen die westlichen Industrienationen gern den Besserwisser. Dabei wissen sie es gar nicht immer besser.

Frühchen im Brutkasten, dpa

In der westlichen Welt kommen Frühchen in den Brutkasten. In Entwicklungsländern gibt es dafür kein Geld - das Baby kommt einfach 24 Stunden am Tag auf den Bauch der Mutter. Die "Kanguruh"-Methode ist billiger, gut für die Eltern, und wirkt genauso wie ein Brutkasten.

(Foto: Foto: dpa)

Vielmehr könnten die reichen Länder viel von den ärmeren lernen, wenn sie nur wollten, moniert die Ärztezeitschrift British Medical Journal, die dem Thema kürzlich eine komplette Ausgabe gewidmet hat (1).

Sobald die Industrieländer unvoreingenommen auf den Süden blickten, "werden wir uns nicht als Lehrer wiederfinden, wie wir gedacht haben", betont Donald Berwick vom Institute for Healthcare Improvement in Boston.

"Vielmehr werden wir Schüler jener Menschen sein, die unter Umständen arbeiten, unter denen wir längst aufgegeben hätten."

Tatsächlich haben westliche Gesundheitsexperten viele ihrer Bemühungen längst aufgegeben. Denn in der Regel versuchen sie, ihre etablierten Behandlungsmethoden eins zu eins in die so genannte Dritte Welt zu exportieren.

Oft zum Scheitern verurteilt

Doch was in den USA und Europa funktioniert, ist in Entwicklungsländern oft zum Scheitern verurteilt. Schließlich unterscheidet sich nicht nur die dortige Infrastruktur von der hiesigen, sondern auch die Kultur und die Mentalität der Menschen.

",Wir wollen die Versorgung ja verbessern, aber sie lassen uns nicht', lautet dann oft die Klage", sagt Berwick.

So galten Mitte der 90er-Jahre Infektionen mit multiresistenten Tuberkulosebakterien in armen Regionen schlicht als nicht therapierbar.

Bis zwei amerikanische Ärzte vor Ort den Gegenbeweis antraten: In Carabayllo, einem Elendsviertel von Perus Hauptstadt Lima, schulten sie das medizinische Personal, kümmerten sich um Medikamente und informierten die Bevölkerung über Symptome und Komplikationen. Nach den ersten positiven Ergebnissen begann die Regierung, das Projekt zu unterstützen.

Heute werden in Carabayllo 80 Prozent aller Tuberkulosekranken geheilt. Das Erfolgsmodell könnte sich in anderen Ländern ebenfalls bewähren. Doch dazu müsste das Wissen an die weltweit operierenden Gesundheitsorganisationen zurückfließen.

Aus Fehlern lernen

Genau daran hapert es aber, wie Tessa Richards kritisiert. "Wir müssen besser verstehen, warum manche Initiativen greifen und andere versagen", mahnt die stellvertretende Herausgeberin des British Medical Journal. "Nur mit konsequenter Evaluation können wir aus Erfolgen ebenso wie aus Fehlern lernen."

Wie erfolgreich Wissenstransfer sein kann, zeigt ein Beispiel aus Kolumbien. Dort stand der Kinderarzt Edgar Rey 1978 vor dem Problem, die vielen Frühgeborenen zu versorgen.

Säuglinge unter 2000 Gramm müssen normalerweise im Brutkasten liegen, weil sie ihre Körpertemperatur nicht selbst regulieren können. Inkubatoren gab es in Kolumbien aber nicht genug. Also band Rey den Müttern die Frühchen auf den Bauch, sobald diese selbstständig atmeten.

"Kangaroo Mother Care"

24 Stunden am Tag sollten die Frauen die Kleinen direkt am Körper tragen, mit möglichst engem Hautkontakt. Mittlerweile hat die "Kangaroo Mother Care" genannte Methode nicht nur andere Entwicklungsländer, sondern auch die Industrienationen erreicht.

Das Känguruh-Prinzip ist genauso effektiv wie der Brutkasten, wird von den Eltern bevorzugt und kostet deutlich weniger.

Auch von China kann der Westen lernen. Dort sind Wochenbettdepressionen nämlich praktisch unbekannt. In Europa und den USA leidet dagegen etwa jede fünfte Frau nach der Geburt ihres Kindes unter einem behandlungsbedürftigen seelischen Tief.

Ein Grund dafür scheint zu sein, dass im Westen das Neugeborene im Mittelpunkt steht. Sofern Hebammen noch nach der Geburt vorbeikommen, greifen sie den Frauen vor allem bei der Pflege unter die Arme.

Wochenbettdepressionen sind einer englischen Studie zufolge aber deutlich seltener, wenn sich Helfer an den Bedürfnissen der Mutter orientieren - zum Beispiel, wenn jemand den Einkauf erledigt.

Wie in China: Dort gilt der Körper der Mutter im ersten Monat nach der Niederkunft als schwach. Deshalb versuchen Freunde und Verwandte, sie in allen anderen Bereichen so weit zu entlasten, dass die Mutter sich ganz auf ihr Baby konzentrieren kann.

"Warum suchen wir immer in den USA nach Ideen, wenn wir genauso gut Initiativen aus Bangladesch oder Kolumbien übernehmen könnten?", fragt Kamran Abbasi provozierend.

Der Chefredakteur des British Medical Journal geht noch weiter: Gerade weil sich die lokalen Lösungen unter widrigsten Umständen bewährt hätten, könnten die reichen Länder daraus lernen.

(1)BMJ, Bd.329, Nr.7475, 2004

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