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Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich freiwillig selbst Schlaf entzieht - so schlimm wie heutzutage war es noch nie, wie eine neue Studie zeigt. Statt sich um mehr Ruhe zu kümmern, greifen viele zu Medikamenten.

Von Werner Bartens

Diese Zahlen könnten Schlafforschern die Nachtruhe rauben. Immerhin fühlen sich nach einer Studie der Krankenkasse DAK 80 Prozent der Arbeitnehmer von Schlafstörungen betroffen. Hochgerechnet auf die Bevölkerung, entspricht das 34 Millionen Menschen. Seit 2010 sind demnach Schlafstörungen bei Berufstätigen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren um 66 Prozent angestiegen. Das zeigt jetzt der DAK-Gesundheitsreport "Deutschland schläft schlecht - ein unterschätztes Problem". Unter besonders schweren Schlafstörungen, der Insomnie, leidet jeder zehnte Arbeitnehmer. Frauen sind mit elf Prozent etwas häufiger betroffen als Männer, von denen acht Prozent ganz schlecht schlafen.

Eine apathische deutsche Gesellschaft döst dem Feierabend entgegen

Für die Gesundheit der Bevölkerung hat das massive Folgen. "Schließlich macht fehlender Schlaf dick, dumm und krank", bringt es der Regensburger Schlafforscher Jürgen Zulley auf den Punkt. Bekommt der Körper zu wenig Erholung in der Nacht, beeinträchtigt dies den Stoffwechsel, der Mensch nimmt zu. Außerdem führt zu wenig Schlaf zu Konzentrationsstörungen, das Gedächtnis leidet. Gerade Schüler und Studenten können schlechter lernen und sich weniger merken. Und seit Kurzem wissen Forscher, dass schon ein paar Tage ungenügender Schlaf das Risiko für Infektionen deutlich erhöhen. Wer nicht ausgeschlafen ist, erkältet sich eher und steckt sich leicht mit anderen Krankheiten an.

Weil sich nur wenige Betroffene ärztlich behandeln lassen oder krankmelden, hat das für die Wirtschaft enorme Konsequenzen: 43 Prozent der Erwerbstätigen sind bei der Arbeit müde und nahezu ein Drittel fühlt sich regelmäßig erschöpft. Eine apathische Gesellschaft also, die da an Werkbänken, in Büros, auf Baustellen und in Geschäften dem Feierabend entgegendöst. Die Einbußen können nur erahnt werden. Was könnte nur aus diesem Land noch werden, wenn es endlich wach würde!

Ursache für die verbreiteten Schlafprobleme sind laut Report der DAK unter anderem die Arbeitsbedingungen. Wer häufig an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit schuftet, steigert sein Risiko, die schwere Schlafstörung Insomnie zu entwickeln. Auch starker Termin- und Leistungsdruck, Überstunden sowie Nachtschichten und ständige Erreichbarkeit nach Feierabend gelten in diesem Zusammenhang als wichtige Risikofaktoren.

Passend zu diesem Befund haben Physiologen aus Großbritannien gerade eine Analyse veröffentlicht, die anhand der Befragung von 2000 Erwachsenen zeigt, wovon sich Menschen besonders gestresst fühlen. Den Job zu verlieren stand mit 8,47 auf einer Stressskala von null bis zehn besonders weit oben, unerwartete Geldprobleme rangierten bei 7,39 und der Verlust des Smartphones immerhin bei 5,79. Kein Wunder, dass viele Menschen das Gefühl haben, nie genug für die Arbeit zu tun, ständig E-Mails abrufen zu müssen und in Gedanken schon beim nächsten Projekt sind. Ein Teufelskreis der Hetze.

"Die zunehmenden Schlafstörungen in der Bevölkerung sollten uns wachrütteln", sagt Andreas Storm, Vorsitzender der DAK. "Viele Menschen kümmern sich nachts um volle Akkus bei ihren Smartphones, aber sie können ihre eigenen Batterien nicht mehr aufladen." Den meisten Menschen ist nicht bewusst, wie wichtig Schlaf für die Gesundheit ist. Sie achten zu wenig auf ihre Bedürfnisse. Auch in der Medizin findet das Thema zu wenig Beachtung. "Dabei können sich Schlafstörungen ganz erheblich auf die psychische oder körperliche Gesundheit auswirken", sagt Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.

"Wir wissen heute, dass Schlafstörungen nicht nur Vorboten oder Begleitsymptome psychischer Erkrankungen sind, sondern auch einen Risikofaktor für Neuerkrankungen darstellen." Bei fast allen Krankheiten könnten Ein- und Durchschlafstörungen oder Tagesmüdigkeit auftreten. Besonders häufig seien Patienten mit Depressionen betroffen, sagt Deister. Aber auch Angststörungen, Demenzen und Abhängigkeitserkrankungen gingen oft mit Schlafstörungen einher.

Filme und Serien vor dem Einschlafen? Nicht gut für den Schlaf

Statt sich um mehr Ruhe zu kümmern und ihren Lebensstil zu ändern, greifen viele Menschen zu Medikamenten. Im Vergleich zu 2010 schlucken heute fast doppelt so viele Erwerbstätige Schlafmittel. Die Zahl der Betroffenen stieg von 4,7 auf 9,2 Prozent. Jeder Zweite kauft Schlafmittel ohne Rezept und greift zur Selbstmedikation. Knapp jeder Vierte nimmt die Schlafmittel sogar länger als drei Jahre ein. "Heute werden noch immer zu viele Mittel mit Abhängigkeitspotenzial über zu lange Zeiträume eingenommen", sagt Ingo Fietze, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité. "Es ist wichtig, die Behandlung mit Schlafmitteln geschulten Ärzten zu überlassen."

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich freiwillig Schlaf entzieht. Statt sich Auszeiten zu nehmen und abends abzuschalten, tragen viele selbst zu ihrem Leid bei. Laut DAK-Studie sehen 83 Prozent der Befragten vor dem Einschlafen Filme und Serien, 68 Prozent erledigen Angelegenheiten an Laptop oder Smartphone. Etwa jeder Achte kümmert sich noch um dienstliche Dinge wie E-Mails oder die Planung des nächsten Arbeitstages. "Diese Ergebnisse zeigen eindrucksvoll, wie unsere Gesellschaft das Thema Schlaf in eine Nebenrolle drängt", sagt Fietze. "Der Körper braucht aber Zeit, um nach einem stressigen Tag abzuschalten und sich auf den Schlaf einzustellen. Diese Zeit müssen wir ihm gönnen."

Manchmal aber trügt auch der Anschein einer schlaflosen Nacht: Wer das Gefühl hat, kein Auge zugemacht zu haben, war oftmals nur dreimal für eine halbe Stunde wach. Das bleierne Gefühl am nächsten Morgen kann einen jedoch auch ereilen, wenn man zwar genügend Schlaf bekommen hat, aber in einem ungünstigen Moment aufgewacht ist.

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