Gesellschaft:Die Gezeichneten

Gesellschaft: Einfach nur scannen - dann weiß man, wo der verwirrte alte Mensch hingehört: der Barcode für Demenzkranke.

Einfach nur scannen - dann weiß man, wo der verwirrte alte Mensch hingehört: der Barcode für Demenzkranke.

(Foto: Toshifumi Kitamura/AFP)

Ein Barcode, mit dem man Demenzkranke sofort identifizieren kann, sorgt für Diskussionen in Japan, wo es immer mehr sehr alte und gebrechliche Menschen gibt.

Von Christoph Neidhart, Tokio

In Japan leben 70 000 Hundertjährige, zehn Millionen Japaner sind 80 oder älter. Viele von ihnen reisen noch, die Tourismusbranche hat ihre Pauschalreisen an sie angepasst: mit häufigeren Klo-Stops der Busse und frühem Abendessen. Solche Angebote kennzeichnen die Japaner inoffiziell mit dem Begriff "Silber". Eine Hotelkette gewährt schon Gästen über 60 Silber-Rabatte, ins Kino kommen bereits die 50-Jährigen vergünstigt. Will man in einer Land-Drogerie dagegen Windeln kaufen, dann weist die Verkäuferin einen auf ein Regal mit großer Auswahl hin. Und wo sind die Baby-Windeln? "Baby-Windeln, ach, die müssten wir bestellen."

Clevere Unternehmen nutzen die drastische Überalterung für neue Geschäftsmodelle. In Iruma, einer Kleinstadt unweit von Tokio, sitzt die kleine IT-Firma "Orange Links". Sie hat den Sozialbehörden dort angeboten, für Demenzpatienten kleine Barcode-Etiketten zu drucken, die ihnen auf einen Fingernagel geklebt werden. Falls sich ein Kranker verirrt, kann er mit einem Smartphone identifiziert und nach Hause gebracht werden. Die Idee ist nicht neu, Adressschilder in Jacken oder um den Hals von Demenzpatienten gibt es längst. Dennoch gehen jährlich 10 000 demente Japaner verloren. Der Barcode macht die Etiketten zur Hightech-Lösung. Barcodes sind "cool", viele junge Japaner verlinken ihre Websites mit bunt geschmückten Barcodes. Und "Orange Links" hat es mit der scheinbaren Innovation weit über Japan hinaus kostenlos in die Medien geschafft.

Eine Kehrseite des Silber-Booms ist die Alten-Kriminalität. Während Japan Jahr für Jahr insgesamt weniger Verbrechen zählt, begehen immer mehr alte Leute Delikte, vor allem Ladendiebstahl. Die Gefängnisse mussten Silber-Abteilungen einrichten. Sie sind Rollator-gängig, haben Duschen mit Haltestangen und eine geriatrische Poliklinik.

Von den etwa zehn Millionen Japanern über 80 haben mehr als ein Drittel noch einen Führerschein. Viele fahren auch noch - weil ihnen gar keine Wahl bleibt. In den Städten ist der öffentliche Nahverkehr dicht und zuverlässig, auf dem Land dagegen hat man Glück, wenn einmal am Tag ein Bus vorbeikommt. Obwohl ihre Fahrtauglichkeit regelmäßig geprüft wird, verursachen die älteren Fahrer übermäßig viele Unfälle, zeigt die Statistik. Sie verwechseln Gas- und Bremspedal und tauchen öfter als Geisterfahrer auf der Autobahn auf, so die Polizei, die alle Fahrer jenseits der 70 zwingt, sich mit einem Kleeblattsymbol am Heck des Wagens als "alt" auszuweisen. Im Vorjahr waren mehr als die Hälfte der 2247 Verkehrstoten Japans über 65. Die Polizei versucht deshalb, greise Fahrer davon zu überzeugen, ihren Führerschein abzugeben.

Angeblich um die Polizei zu unterstützen, kündigte die Fastfood-Kette Sugakiya kürzlich an, dass Senioren, die den Führerschein abgegeben hätten, in ihren Filialen in der Präfektur Aichi die Nudelsuppen zehn Prozent billiger erhielten - was man allerdings auch als billigen Werbetrick interpretieren kann.

Neuerdings wird sogar über eine "Silber-Demokratie" diskutiert, in der die Stimmen der jungen Wähler mehr Gewicht hätten als jene der alten. Heute bevorteilt das Wahlrecht die dünn besiedelten Landpräfekturen, da die Abwanderung zu wenig kompensiert wird. Dort leben vor allem Alte, die überdies die treuesten Wähler sind. Man möchte deshalb die Jungen stärken, so wie bisher die arme Provinz. Der kühne Vorschlag: Man müsse dazu eigene Altersgruppen-Wahlkreise bilden, oder Kinder sollten das Wahlrecht bereits mit der Geburt erhalten, das dann die Eltern für sie ausüben könnten. Eine solche Wahlreform hätte freilich keine Chance, so die Experten, die Abgeordneten im Parlament wurden schließlich mehrheitlich von Alten gewählt.

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