Geschichte:Als Münster ein Gottesstaat war

Münster, 1998

Blick auf die Lambertikirche in der Fußgängerzone von Münster (Archivbild). In diesem Jahr ist die Stadt Gastgeberin des Katholikentages.

(Foto: dpa/dpaweb)

Die Universitätsstadt, die in Kürze den Katholikentag ausrichtet, steht heute für ein friedliches Miteinander. Im Mittelalter war das Leben dort eine Zeit lang von Polygamie, Wahn und Massenmord geprägt.

Von Lars Langenau

"Durch Irrwahn und Zerstörung ist diese Stadt vor 400 Jahren hindurchgegangen. Gottes Barmherzigkeit hat sie gerettet, hat ihren Bewohnern den wahren Glauben und damit Ordnung und Wohlstand wiedergeschenkt." Münsters Bischof Clemens August von Galen zur 400-Jahr-Feier der Täufervertreibung, 1935

Wer in Münster den Prinzipalmarkt besucht, sollte einen Blick hoch zum Turm der Bürgerkirche St. Lamberti werfen, die zwischen den spätmittelalterlichen Giebelhäusern steht. Dort hängen seit dem 16. Jahrhundert drei Eisenkäfige in schwindelerregender Höhe im Wind. Seit 1987 sind sie nachts erleuchtet, in Erinnerung an die drei Menschen, die zu Füßen der Kirche unter schlimmster Tortur umgebracht worden waren und deren geschundene Leiber später am Turm des Gotteshauses verrotteten.

Die Käfige sind Mahnung, Wahrzeichen bischöflicher Unterwerfung und "ewige Abschreckung" zugleich. Eine grausige Erinnerung an eine Stadt, die sich einst für 16 Monate einer radikalen protestantischen Sekte hingab, bis dem Frevel (oder der Utopie) von vereinten Landsknechten katholischer und lutherischer Machthaber ein jähes Ende bereitet wurde.

Vom kommenden Mittwoch an begrüßt Münsters Bischof Felix Genn in der einst protestantischen und dann rekatholisierten Stadt Zehntausende Besucher des 101. Katholikentags. Er steht unter dem Leitwort "Suche Frieden" und thematisiert Religion als Ursache von Gewalt. Welcher Ort könnte für so eine Reflexion besser geeignet sein als die Stadt, in welcher der Westfälische Friede anno 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete? Doch die heute so beschauliche Universitätsstadt hat eine andere, eine schreckliche und erschreckende Geschichte zu erzählen.

Zwischen Hammer und Amboss

Nach der von Luther und Zwingli initiierten Reformation bilden sich in Europa auch charismatische Glaubensgemeinschaften, die in ihrer Kritik am Bestehenden deutlich weiter gehen. Die Zweifel an theologischen Glaubenssätzen, ökonomische Krisen, soziale Unzufriedenheit und die daraus folgenden Bauernkriege schaffen ein Klima der Unzufriedenheit - und des Aufbruchs.

Manche der Neugläubigen sind Chiliasten, welche die Offenbarung des Johannes als Wiederkehr Christi und die Errichtung seiner tausendjährigen Herrschaft deuten und die Kindstaufe ablehnen. Weil sie einen freien Willen voraussetze, könne die Taufe nur im Erwachsenenalter als bewusste Entscheidung erfolgen: Mit dieser Position geraten die Abweichler zwischen Hammer und Amboss. Katholiken und Protestanten belegen 1529 auf dem Reichstag zu Speyer die Täuferlehre mit der Todesstrafe.

Schauplatz dieser Auseinandersetzung wird eine mit ihren massiven Verteidigungsringen als uneinnehmbar geltende westfälische, mittelgroße Stadt. In Münster erlangen im Jahr 1533 Protestanten die Mehrheit im Rat, in allen Pfarrkirchen darf protestantisch gepredigt werden. Doch die theologischen Positionen des Pastors der Hauptkirche St. Lamberti, Bernd Rothmann, werden immer radikaler.

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Die Käfige der im 16. Jahrhundert Geschundenen sind in Münster bis heute zu sehen.

(Foto: Rüdiger Wölk/imago)

Das Drama des Täuferreiches nimmt seinen Lauf

Vor allem aus den nahen Niederlanden strömen viele Menschen in die Stadt, um gemeinsam das Jüngste Gericht zu erwarten. Als diese Gruppe mit 2000 Zugezogenen die Oberhand gewinnt, nimmt das Drama seinen Lauf: Im Januar 1534 kommt es zu Massentaufen erwachsener Bürger. Alle, die sich nicht noch einmal taufen lassen, müssen die Stadt verlassen - etwa die Hälfte der Bevölkerung.

Es ist eine Kampfansage an den Stadtherrn, Fürstbischof Franz von Waldeck, einen eigentlich eher dem Protestantismus zugeneigten Lebemann mit Geliebten und unehelichen Kindern. Gemeinsam mit anderen Fürsten nimmt er, nach einigem Zaudern, den Kampf gegen das abtrünnige Münster an. Angelangt ist dort inzwischen auch der ehemalige Wirt, Bordellbetreiber und jetzige religiöse Abgesandte aus Holland, Johann Bockelson, den sie auch Jan Beukel oder Jan van Leiden nennen.

Im Februar erlangen die Täufer bei den Ratswahlen die Mehrheit der Sitze, Mitte Februar erscheint der holländische "Prophet" Jan Matthys, der früh die Vision verbreitete, Münster sei das "Neue Jerusalem". Der Bäcker aus Harlem verbindet Theologie und Recht, radikalisiert die Gemeinde weiter, vollstreckt selber Todesurteile gegen Kritiker und will alle "Ungläubigen" in der Stadt töten lassen, lässt sich aber vom Bürgermeister Bernhard Knipperdolling überreden, die Taufunwilligen nur zu vertreiben. Der kleine Gottesstaat wird zur Festung, in der sich eine Clique die Rechtfertigung für all ihr Tun nachträglich aus der Bibel holt.

Anzeichen des Weltuntergangs

Erben der Täufer

Historikern zufolge gab es nie mehr als 12 000 Anhänger der "Wiedertäufer" oder Täufer in Deutschland, früh wurden sie von beiden Konfessionen als Häretiker bezeichnet und verfolgt. Ihre Lehre stammt aus der Schweiz, wo Zeitgenossen Zwinglis die Erwachsenentaufe praktizierten und schnell Anhänger in den Niederlanden und Deutschland fanden. Für sie war das Täuferreich von Münster 1534/35 allerdings der Anfang vom Ende. Trotzdem leben ihre Ideen weiter. Etwa bei den Mennoniten, die auf den niederländischen Theologen Menno Simons (1496 bis 1561) zurückgehen, der allerdings apokalyptische Visionen und jedwede Gewaltanwendung ablehnte. Doch auch sie wurden verfolgt und wanderten nach Osteuropa und Nordamerika aus. Laut Mennonitischer Weltkonferenz existieren weltweit etwa 2,1 Millionen Täufer, darunter auch die Hutterer, von denen heute noch etwa 45 000 sowie etwa 300 000 Amish vor allem in den USA und Kanada leben. Lars Langenau

Jan Matthys und Jan van Leiden formen mit Charisma und Gewalt eine Art Urgemeinde, schaffen Privatvermögen und Geldverkehr ab, verbrennen Schuldscheine, Rechnungen und alle Bücher bis auf die Bibel. Sie zerstören Reliquien, benutzen Kirchenbilder als Abort und flicken mit Grabsteinen und Steinskulpturen Löcher in der Stadtmauer. Zwar bleibt Hausbesitz erhalten, aber Geld, Gold und Geschmeide kommen in einen Schatz, der Bedürftigen und der Gemeinschaft helfen soll.

Währenddessen beginnt Fürstbischof von Waldeck mit der Belagerung der zu dieser Zeit etwa 9000 Einwohner zählenden Stadt. Trotz des Geldverbots werden eigene Münzen geprägt, um damit Nahrung und Waffen aus der Umgebung der noch nicht ganz eingeschlossenen Festung zu kaufen. Matthys hat für Ostersonntag, den 5. April 1534, die Ankunft Christi im "Neuen Jerusalem" prophezeit. Doch als die von ihm vorausgesagte Apokalypse ausbleibt, reitet er in die Reihen der Feinde hinein. Er wird mit einem Lanzenstich getötet, sein Leib unter dem Gelächter der Landsknechte zerstückelt und sein Kopf auf eine Lanze gesteckt. Immerhin für ihn hat sich seine Prophezeiung erfüllt.

Doch alle Verzweiflung über das Ausbleiben des Weltgerichts kann Matthys' Landsmann, der erst 25-jährige Jan van Leiden, mit einer einzigen Predigt auffangen. Er muss ein begnadeter Rhetoriker gewesen sein, denn umgehend nimmt er selbst den verwaisten Posten des Propheten ein und propagiert fortan ein Ausharren bis zur Ankunft Christi.

Im Grunde haben sie alle mit dem Leben abgeschlossen, als sie sich in Münster versammeln; schließlich gab es genügend Anzeichen des bevorstehenden Weltuntergangs: die Türken vor Wien, der Zusammenbruch der Wirtschaft, die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, Bauernerhebungen und Krankheiten wie die Pest wüten noch immer. Es ist eine Zeit des Umbruchs, in der die Menschen in Münster offenbar nicht mitbekommen haben, dass Kolumbus 1492 Amerika entdeckt hat. Sie sind, wie der französische Denker Roland Barthes sinngemäß schrieb, nicht dümmer, sie denken einfach in anderen Kategorien. Und zu dieser Zeit ist das Leben eben auf die Endzeit ausgerichtet.

In der Stadt tobte ein Geschlechterkampf

Jan van Leiden jedenfalls beseitigt den Stadtrat, ersetzt ihn durch einen "Rat der zwölf Ältesten der Stämme Israels", verleiht seinem Prophetenamt Verfassungsrang und führt drakonische Strafen ein. Auf Gotteslästerung, Ungehorsam, Betrug, Lügen, "Verleumdung, Murren und Aufruhr" stehen fortan Bann oder sogar die Todesstrafe.

Mit einem geschickten Schachzug macht er Bürgermeister Knipperdolling in einer Volksversammlung zum Scharfrichter. Jan van Leiden errichtet ein theokratisches Reich, durchaus mit Zustimmung aller Schichten und Stände. Seine unpopulärste Maßnahme ist die Einführung der Vielehe, die es freilich - in Bezug auf das Fruchtbarkeitsgebot - lediglich den Männern gestattet, mehrere Ehefrauen zu haben; nicht umgekehrt. Sexuelle Zügellosigkeit widerspricht zwar den täuferischen Lehren, aber in der Stadt tobt auch eine Art Geschlechterkampf: Die Männer haben die absolute Macht über die Frauen verloren und versuchen nun, sie mit der Bibel wieder zur Folgschaft zu zwingen.

Jan van Leiden lebt die Polygamie vor und ehelicht gleich 16 Frauen, nebst der Witwe von Matthys. Etwa 5000 Frauen zählt Münster zu dieser Zeit, mehr als 1000 Kinder und nur etwa 2000 Männer.

Im Juli 1534 wird ein Aufstand niedergeschlagen, 47 Männer werden ohne Verhandlung hingerichtet. Ein paar Wochen später kommt es zu einem Sturmangriff der Belagerer, die mit Tausenden Söldnern vorrücken. Doch die Attacke wird blutig zurückgeschlagen. Ihren Sieg verstehen die Täufer als göttliches Zeichen und machen Jan van Leiden im September 1534 zum König von Münster. Als Zeichen seiner Macht lässt er sich ein eigenes Wappen anfertigen: zwei den Reichsapfel durchstoßende Schwerter.

Inzwischen jedoch ist die Stadt von den Belagerern völlig eingeschlossen, eine furchtbare Hungersnot die Folge. Pferde, Hunde, Katzen, Ratten werden zur Delikatesse. Kalk wird von den Wänden gekratzt, um ihn aufgelöst als Milchersatz den Kindern zu geben. Berichte von Kannibalismus sind überliefert. Nur noch etwa 800 Mann sind zu diesem Zeitpunkt wehrfähig. Jan van Leiden aber sagt: "Wenn ich mit den Engeln allein diese Stadt verteidigen müsste, ich würde es tun." Er wird immer paranoider.

Verrat ermöglicht in der Nacht zum 25. Juni 1535 die Erstürmung Münsters durch 3000 Landsknechte. Es folgt ein Abschlachten mit dem Aufruf, alle zu töten, die ganz bleich und dürr sind. Mindestens 650 Menschen, Alte, Frauen, Kinder, werden gnadenlos niedergemetzelt. Der Prediger Bernd Rothmann, eine der Führungsfiguren, verschwindet von der Bildfläche, ob er getötet wird oder fliehen kann, wird nie geklärt. Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling und Bernhard Krechting werden gefoltert, ein halbes Jahr in Westfalen öffentlich gezeigt, am 6. Januar 1536 verurteilt und am 22. Januar hingerichtet.

Sie bekommen das Angebot zu widerrufen und schnell zu sterben - und lehnen ab. Mehr als vier Stunden soll ihr Martyrium gedauert haben, bis ihnen laut Urteil "alles Fleisch mit glühenden Zangen von den Knochen abgerissen und dann Gurgel und Herz mit glühenden Eisen durchstoßen werden". Danach werden sie in die später berühmten Käfige gesteckt und zur Schau gestellt.

Eine vorurteilsfreie Würdigung der Bewegung der Täufer und ihres als "Theaterkönig" verunglimpften Führers fehlt bis heute. Immer wieder erscheinen sensationsheischende Artikel wie "Vielweiberei und Hexensabbat in Münster", "Als Wutbürger die Polygamie für sich entdeckten" (Die Welt), schlechte Romane wie "Der König der letzten Tage" oder der gleichlautende TV-Film mit dem jungen Christoph Waltz in der Rolle des Jan van Leiden.

Grundlage all dieser Interpretationen ist der Chronist Hermann Kerssenbrock, der erst 30 Jahre nach den Ereignissen für die Siegerseite darüber schrieb, und das Täuferbild damit dauerhaft negativ prägte: Ein leicht verführbarer Pöbel verschreibt sich zwei ausländischen Propheten, in dessen Folge es zur "Raserei der Wiedertäufer" und "grässlichsten Verirrung menschlichen Wahnsinns" kommt.

Wiederkehr der Bilderstürmer im Islamischen Staat?

Bis heute werden die Täufer "nicht nur als Ketzer, sondern auch als abartig oder närrisch hingestellt", kritisiert Ernst Laubach, emeritierter Historiker an der Uni Münster. Angemessen sei deshalb auch die neutrale Bezeichnung "Täufer", weil in dem "Wieder" eine Polemik ihrer Gegner stecke. Sich selbst nannten sie "Brüder und Schwestern im Geiste Jesu Christi".

Man müsse die Täufer von Münster als Menschen des 16. Jahrhunderts sehen, meint Laubach, "die genau dasselbe wollten wie fast alle anderen Menschen damals: den rechten Weg im Glauben gehen, um ganz sicher das Heil zu erlangen, in den Himmel zu kommen".

Durch Polygamie der Lächerlichkeit preisgegeben

War das Täuferreich ein radikales Gesellschaftsexperiment, das nur in der Katastrophe enden konnte? Das war lange die herrschende Meinung in der deutschen Geschichtsschreibung. In der DDR wurden die Ereignisse dann als "frühbürgerliche Revolution" interpretiert, mit Hinweis auf Ähnlichkeiten der Französischen und der Russischen Revolution sowie der Pariser Kommune von 1871. Das Täuferreich galt dort, wie Laubach schreibt, als "Versuch zur Realisierung des Traums von einer Gesellschaft ohne Ausbeutung", das sich aber durch die Polygamie "moralisch isoliert, ja der Lächerlichkeit preisgegeben" habe.

Im Westen wurden nach 1945 dagegen manche Parallelen zwischen der Diktatur Jan van Leidens und der Tyrannei Hitlers gezogen. Mit der Totalitarismustheorie wurden die Täufer zu geistigen Vorläufern gleich beider mörderischen Gesellschaftssysteme des frühen 20. Jahrhunderts deklariert: Nationalsozialisten und Stalinisten. Heute, so könnte man das deuten, finden die Bilderstürmer von damals in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) einen Wiedergänger.

Der österreichische Schriftsteller Robert Schneider ("Schlafes Bruder") schuf 2004 Jan van Leiden mit seinem Roman "Kristus" ein literarisches Denkmal. Die Kindheitsgeschichte seines Antihelden ist weitgehend Fiktion, bei den späteren Fakten allerdings konnte er sich fast wörtlich aus dem Stadtarchiv bedienen. Er habe das Gefühl, sagt er im Gespräch mit der SZ, dass wie damals auch der IS ein von Angst gesteuerter Verein sei, der seine Paranoia nach außen stülpt und ein Terrorregime errichtet. Sobald jedoch Menschen gezwungen werden, zum Ursprung zurückzukehren, laufe etwas grundlegend falsch.

Im Grunde aber, meint Schneider, war das mit dem Urkommunismus eine "charmante Idee, bei der allerdings alles schiefging".

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